Elfriede M.

Wie ein Missbrauchsopfer im Nationalsozialismus zur Täterin gemacht wurde – Prostitutionspolitik im Nationalsozialismus

(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

Ich bin Historikerin. Mein Forschungsschwerpunkt ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Kriegssituationen. Konkret forsche ich zum Thema der Bordelle für Wehrmacht und SS. Das bedeutet häufig, emotional belastendes Quellenmaterial zu sichten. Briefe kleiner Mädchen zu lesen, die über Gewalt gegen jüdische Frauen im Vorfeld des Massakers der Wehrmacht an 33.000 Jüdinnen und Juden im ukrainischen Babi Yar schreiben zum Beispiel. Oder psychiatrische Gutachten über Frauen, die 20 Jahre, nachdem sie den Horror der Wehrmachtsbordelle überlebt haben, noch zusammenbrechen, wenn sie darüber reden sollen und die sagen, sie wünschten, man hätte sie damals gleich umgebracht. Oder Bücher zu schreiben über polnische Verkäuferinnen, die zwangsweise in Wehrmachtsbordelle verbracht worden sind und letztlich nach Auschwitz kamen, weil sie sich gewehrt haben. All das aufzuarbeiten ist wichtig. Aber es ist auch emotional schwer wegzupacken.

Als ich an einem Tag im Herbst ins Archiv gehe, erwarte ich keinen so schwerwiegenden Fund. Ich recherchiere zu einem Nebenthema, denn ich suche noch Material, welches aufzeigt, dass die Strategie, welche die Nationalsozialisten in Sachen Prostitution verfolgten, eine zwiegespaltene war: während sie einerseits Prostituierte kriminalisierten, sie gar als „Asoziale“ ins KZ steckten, waren andererseits sie es, die die Bordelle überhaupt erst wieder eröffneten, ja, die ganze Bordellstraßen bauten, in denen sie prostituierte Frauen kasernierten. In den besetzten Gebieten taten sie dies ebenso: Prostitution wurde hart verfolgt – und zugleich wurden Bordelle für Wehrmacht und SS errichtet. Dies führte zu der absurden Situation, dass auch Frauen, die „draußen“ als Prostituierte verfolgt und deswegen verhaftet worden waren, später im Wehrmachtsbordell genau zu dem gezwungen wurden, weswegen man sie einst verhaftet hatte: Prostitution. Denn der sexuelle Kontakt zu Soldaten sollte vor allem in den besetzten Gebieten nur noch im überwachten Wehrmachtsbordell stattfinden. Dies sollte dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten dienen, aber auch verhindern, dass deutsche Soldaten die Frauen anderer Länder als Menschen wie sie wahrnahmen, als Subjekte überhaupt.

An diesem Tag suche ich Fallbeispiele dafür, dass auch an der Heimatfront Frauen, von denen es hieß, sie hätten sexuelle Kontakte mit deutschen Soldaten, verfolgt wurden – denn die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten war für die Wehrmacht Chefsache. Ein geschlechtskranker Soldat kann nicht kämpfen – und wenn alles schiefläuft, kann er auch keinen Nachwuchs mehr zeugen. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Mir werden also im Archiv einige Fallakten deutscher Frauen vorgelegt, die Ärger mit den Behörden bekamen, weil sie deutsche Soldaten mit Geschlechtskrankheiten angesteckt haben sollen. Es sind ungefähr 50 Kripoakten. Normalerweise schaffe ich es, 50 Akten an einem einzigen Tag durchzulesen. An diesem Tag aber schaffe ich nur eine, nämlich die, die mir gleich als erstes vorgelegt wird. Es ist die von Elfriede.

Elfriede wird 1941 verhaftet, weil ihr vorgeworfen wird, dass sie den Schützen Paul Sch. mit Tripper angesteckt hat. So weit nichts Außergewöhnliches – aber bereits auf den ersten Seiten der Akte, die die Kriminalpolizei Leipzig über Elfriede angelegt hat, macht mich etwas stutzig. Denn Elfriede, die im Dezember 1920 in Leipzig geboren wurde und fünf Geschwister hat, wird bereits mit 15 das erste Mal von der Kriminalpolizei aufgegriffen. Sie ist von zu Hause weggelaufen, zum 21. Mal. Sie schläft draußen, und sie friert erbärmlich. Weil sie mehrfach Kleidung wie z.B. Mäntel aus Schulen stiehlt, bekommt sie mit der Polizei zu tun. Der Vater, auf die Wache bestellt, um die Tochter heimzuholen, gibt an, sie sei seit der ersten Periode „verstimmt“, wisse bisweilen nicht mehr, was sie tue, und laufe dann von zu Hause fort. Zurück komme sie dann stets in einem halbverhungerten Zustand. Elfriede kommt in eine Nervenklinik, aus der sie aber flieht. Erneut schläft sie in leerstehenden Häusern nahe ihres Elternhauses, stiehlt Kleidung, weil ihr so kalt ist. Zu essen hat sie nichts. Die Kripo führt sie erneut der Nervenklinik zu, in der man zu dem Schluss kommt, dass es eigentlich kaum möglich sei, dass Elfriede nicht wisse, was sie tue. Auch die Kripo vermerkt, Elfriede mache einen normalen Eindruck, allerdings wirke sie manchmal plötzlich verstört und wisse dann keine Antwort mehr.

Bis 1938 wird Elfriede immer und immer wieder aufgegriffen, es ist stets dasselbe Muster: sie läuft von zu Hause fort, stiehlt, was sie braucht, um sich in der Nachtkälte zu wärmen. Sie berichtet der Kripo, sie wisse nicht, warum sie von zu Hause entweiche, es überkomme sie wie ein Drang, aber sie verspüre an diesen Tagen immer ein Angstgefühl ihren Eltern gegenüber, und sie empfinde als schrecklich, dass sie und ihre Geschwister nicht auf der Straße spielen dürften, sondern sich, da die Mutter viel arbeite, nachmittags allein mit ihrem Vater in der Wohnung aufhalten müssen. Das halte sie nicht aus. Der Drang, fortzulaufen und zu stehlen, überkomme sie aber nur, wenn sie sich zu Hause aufhalten müsse, nicht, wenn sie weit fort sei und arbeite.

Als sie schließlich im Verdacht steht, ein Fahrrad gestohlen zu haben, werden Gutachten über sie angefordert. Die Volksschule, die sie besucht hat, teilt mit, sie habe schon damals nicht vermocht, sich der Gemeinschaft anzuschließen, und sei wegen ihres verschlossenen Wesens von der Klasse abgelehnt worden. Außerdem habe sie selten Schularbeiten gemacht, da sie als Älteste der Geschwister daheim den Haushalt führen musste. Der Schulleiter findet, Elfriede mache den Eindruck einer „schwachsinnigen“ Person. Auch der Vater, Albert M., schlägt in dieselbe Kerbe und bezeichnet seine eigene Tochter als „geistig minderwertige Person“. Die Kripo beurteilt Elfriede wie folgt: „Die M. ist eine sehr verlogene Person. Macht auch den Eindruck einer geistig minderwertigen Person. Doch geht sie mit viel Geschick und Überlegung bei strafbaren Handlungen ans Werk.“ Das Amtsgericht verurteilt Elfriede wegen Diebstahls, danach kommt sie in ein Mädchenheim. Der Vater, ein ehemaliger Fürsorgepfleger, der in den letzten Jahren vor seiner Schwerbeschädigtenrente als Justizangestellter gearbeitet hatte, fragt in Briefen mehrfach nach, ob in dem Leipziger Mädchenheim auch wirklich eine Erziehung im nationalsozialistischen Geiste gewährleistet sei. Er ist seit Mai 1933 Parteimitglied, unterzeichnet auch privat mit „Heil Hitler“, ist Mitglied der NSV, seine Frau Ortsgruppenleiterin beim Frauenbund. Und er beschwert sich beim Jugendamt darüber, dass man den Eltern Elfriede entzogen hat, sie seien schwer getroffen: „Ich habe als politischer Leiter meinem Führer den Eid geleistet, den halte ich bis zum Tode (…). Ich kenne nur Volksgemeinschaft. Meine Familie und ich sind schwer geschädigt, durch das was man uns angetan. So ist uns bewiesen worden, wie man Schwerbeschädigte und kinderreiche Familien schützt. Es ist uns bewiesen und klargemacht worden, dass nationalsozialistischer Geist noch immer nicht überall eingezogen ist, dass es immer noch zweierlei Parteigenossen gibt, und ich lasse mir dies nicht gefallen. Einer fällt, entweder ich oder derjenige Mensch, der mein Unglück gewollt.“

Und tatsächlich wird Elfriede wieder aus dem Mädchenheim entlassen. Und der Vater erstattet dem Jugendamt Bericht über Elfriedes Entwicklung: Sie gehe wieder arbeiten, schreibt er, aber er behalte ihr Geld ein. Nur ab und an gebe er ihr ein paar Groschen. Das Problem des nächtlichen Einnässens, das Elfriede seit ihrem 8. Lebensjahr habe, habe er jetzt gelöst, indem er sie nachts mehrfach wecke.

Das ist der Moment, in dem es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Ein Vater, der seine Kinder nachmittags einsperrt, während die Mutter nie da ist. Der seine Tochter als „geistig minderwertig“ bezeichnet. Ein Mädchen, das immer wieder von zu Hause wegläuft, sogar im Winter, das lieber draußen schläft und hungert und stiehlt, als nach Hause zu gehen. Und das ins Bett pinkelt, jede Nacht. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht. Ich ahne, warum Elfriede nicht nach Hause möchte. Und ich kann die Akte nicht mehr weglegen, kann jetzt nicht weitere Fälle anschauen – ich muss wissen, wie es weitergegangen ist. Ich bestelle bei der Archivaufsicht für den nächsten Tag alle Akten, die ich zu Elfriede finden kann: ihre Heimakten, und auch eine Gerichtsakte. Außerdem finde ich noch eine weitere Gerichtsakte zu ihrem Vater. Auch die bestelle ich.

Und am nächsten Tag lese ich weiter Elfriedes Geschichte. Wühle mich durch die Akten, die seit 80 Jahren niemand mehr geöffnet hat. Und ich sehe, dass im November 1938 Elfriedes Onkel zum Jugendamt geht und dort die Vermutung äußert, dass Elfriede von ihrem Vater missbraucht wird. Mehrfach habe er Übergriffigkeiten ihr gegenüber beobachtet, sagt er, auch existierten Nacktbilder von ihr, die der Vater gefertigt hatte. Er versuche, Elfriedes Vertrauen zu gewinnen, vor allem, seit sie immer wieder fortlaufe, aber sie sei ganz und gar verschlossen, richtiggehend verstockt. Weil Elfriede nicht aufhört, sich „herumzutreiben“, kommt sie in ein Heim in Mittweida. Von dort berichtet man über sie, es sei außerordentlich schwer, an sie heranzukommen, sie sei sehr still und mache einen verschüchterten Eindruck. Sie sei gerne für sich, lese viel und liebe es, draußen in der Natur zu sein. Aber auch darüber möchte Elfriede nicht reden: „Sie schien intensiv zu erleben. Ihre Naturschilderungen bewiesen ihre seelische Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit. Nur selten äußerte sie sich aber über solche Erlebnisse, sie verschloss alles in sich.“ Sie steht abseits, aber ein mangelndes Gemeinschaftsgefühl attestiert man ihr nicht. Den kleineren Kindern gegenüber zeigt sie sich liebevoll und zugewandt. Auch im Heim nässt Elfriede jede Nacht ein. Der Heimleitung fällt auf, dass Elfriede überhaupt kein Ekelgefühl besitzt, sie schläft im urinnassen Bettzeug weiter, sie wäscht sich nicht, wechselt nicht ihre Kleidung, wischt emotionslos Erbrochenes weg und reinigt ohne zu protestieren Toiletten. Von ihren Kameradinnen wird sie wegen ihrer „hochgradigen Unsauberkeit abgelehnt“, die Mädchen behaupten, Elfriede „stinke wie eine Leichenhalle“. Als ich das lese, frage ich mich, ob nicht auch das ein weiterer Hinweis auf sexuellen Kindesmissbrauch ist – der Versuch, Übergriffe abzuwehren, indem man ungewaschen ist und stinkt. Das Jugendamt sieht den Heimaufenthalt nicht als Erfolg an. Im September 1939 schreibt man: „Elfriede ist ein undiszipliniertes Mädchen (…)“, sie sei träge, sie falle durch Liederlichkeit und Schmutz auf. „Sie wird nie imstande sein, dem Guten um seiner selbst willen zu gehorchen.“ Sie sei „gemütsarm, empfindet schwach oder gar nicht“, „kann sich nicht zusammenreißen“, ist „verbockt“ und „lügnerisch“. „Finster und unfreundlich ist ihr Gesichtsausdruck“, bemerkt man, und dass ein „stinkender Geruch“ von ihr ausgeht. Man schlussfolgert: „Ihr Heimaufenthalt hat bisher keinerlei Erfolge erzielt. Es besteht wenig Aussicht, dass sie noch zum Besseren einlenkt.“ Über ihre Eltern schreibt man, sie machten einen „primitiven Eindruck“, sie seien „psychopathisch“. Vor allem der Vater sei ein bekannter Schreiber von Beschwerdebriefen an alle möglichen Behörden und Beamten, er sei ein Querulant – und in der Tat möchte er, dass Elfriede aus dem Heim zu ihm zurückkehrt. Dafür wendet er sich sogar schriftlich an den Reichsjugendführer.

Bevor Elfriede das Heim verlässt, spricht man sie auf die vermuteten „besonderen Beziehungen“ zu ihrem Vater an. Man vermerkt: „Sie ist geständig.“ Und ich ärgere mich darüber, dass man so schreibt, als hätte sie sich einer Straftat schuldig gemacht. Und in der Tat hat sie das, denn das erste, was geschieht, ist, dass ein Verfahren wegen „Blutschande“ eingeleitet wird – gegen Elfriede. Es wird zwar schnell eingestellt, da die „Blutschande“ in absteigender Linie erfolgte und Elfriede noch minderjährig ist, aber es muss sie dennoch erschreckt und eingeschüchtert haben. Sie läuft mehrfach aus dem Heim weg, kann Arbeitsstellen danach nicht halten, stiehlt wieder, weil sie Hunger hat. Der Kripo gegenüber äußert sie: „Ich habe es getan, weil ich in Not war.“ Und der vernehmende Kriminaloberassistent kommt zu dem Schluss: „Die M. machte bei der Vernehmung einen ruhigen, sachlichen, zurückgezogenen und wahrheitsliebenden Eindruck. Ich hatte das Gefühl, als wenn sie die Wahrheit sagte.“

Noch im Jahr 1939 zeigt Elfriede ihren Vater an. Es muss unglaublich schlimm für sie gewesen sein, in der Zeit zwischen Anzeige und Urteil zu Hause bei ihrem Vater wohnen zu müssen. Der Prozess gegen ihren Vater gerät für Elfriede zur Katastrophe. Über sie werden mehrere Glaubwürdigkeitsgutachten aus früheren Schulen und Heimen angefordert, Kripo, Jugendamt, Berufsschule und Nervenklinik sowie das Jugendgericht berichten über sie – und alle Berichte sind negativ und stellen sie in einem sehr schlechten Licht dar. Sie sei eine „haltlose, hochgradig unsaubere (…) Psychopathin“, heißt es. Außerdem sei sie arbeitsscheu und erziehungsresistent, auf Prügel und Auszanken reagiere sie verstockt oder weine „beleidigt große Tränen“. „Im Charakter hat sie etwas unechtes“, schreibt man, sie sei „charakterlich als wenig glaubwürdig anzusehen“. Außerdem neige sie zu Unwahrheiten, und sie habe eine rege Fantasie.

Über ihren Vater wird kein solches Leumunds- oder Führungszeugnis angefordert. Stattdessen wird betont, dass er ein „alter Kämpfer“ ist, ein Parteigenosse und politischer Leiter. Durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erlangt er bei Gericht eine besondere Reputation, auch die Tatsache, dass er kriegsverschüttet worden war und dass er das Frontkämpferehrenkreuz besitzt, hilft ihm hier weiter.

Während des Prozesses will der Vater Elfriede als „geistig minderwertig“ klassifizieren lassen. Obwohl auch der Onkel für Elfriede aussagt, glaubt man ihr nicht. Denn sie ist eine bettnässende „Herumtreiberin“, die gegen einen ehrwürdigen Parteigenossen aussagt. Außerdem wird alles getan, um sie als verrückt dastehen zu lassen. All ihre Aufenthalte in Nervenkliniken werden ihr vorgehalten, außerdem ihre Verhaltensauffälligkeiten, die sie seit Beginn ihrer Periode (und damit auch seit Beginn des Missbrauchs) zeigt. Außerdem wird betont, dass sie sich bei ihren Fluchtversuchen mit Männern „herumtreibt“. Es ist die NS-Version dessen, was auch heute noch anzeigenden Opfern von Sexualstraftaten widerfährt: „Die denkt sich das alles nur aus“, „die ist auf irgendeinem Rachefeldzug“, „die ist doch eh verrückt“, „ich kann mir das bei dem gar nicht vorstellen“ und „die hatte bestimmt gerade ihre Tage und dreht deswegen so durch“ – sowie natürlich die komplette Durchleuchtung des sexuellen Vorlebens der Anzeigenden. Elfriede hatte schon mal einen Freund, und mit diesem auch Geschlechtsverkehr gehabt. Für das Gericht ein Hinweis auf ihre „Verdorbenheit“ und ihre „Triebhaftigkeit“.

Elfriede sagt vor Gericht aus, dass ihr Vater mehrfach mit ihr den Geschlechtsakt vollzogen habe. Sie berichtet, der Missbrauch habe 1935 begonnen, als ihre Mutter bei einem Frauenschaftsabend gewesen sei. Die Schwere der Handlungsweise habe sie damals nicht erkannt, sie habe geglaubt, dies sei normal, bis sie später durch einen Zeitungsartikel darüber aufgeklärt worden sei, dass nicht alle Väter dies mit ihren Kindern machen. Ihrer Mutter habe sie nichts davon erzählt, da sie sich so geschämt habe. Zweimal die Woche habe der Vater sie derart missbraucht. Sie vermute, dass er dies auch mit ihrer kleinen Schwester Erika tue. Die aber leugnet: Der Vater hätte sie nie angefasst, weil sie ganz anders sei als Elfriede. In diesem Nebensatz verrät Erika einiges über die Stimmung in der Familie: Elfriede ist das schwarze Schaf. Sie hat angezeigt. Und dies wird nicht als Versuch gewertet, ihre Geschwister zu schützen, sondern in der Familie wird die Erzählung von Elfriede als Familienzerstörerin etabliert: Elfriede lügt. Und wenn sie nicht lügt und der Vater sich wirklich an ihr vergriffen hat, dann wird es ihre Schuld sein: sie ist „so eine“, sie „treibt sich rum“, es liegt irgendwie an ihrer Art. Es ist also nie passiert und wenn doch, dann ist es ihre eigene Schuld. Als ich diesen Nebensatz lese – „denn ich bin ganz anders als Elfriede“ –, kann ich mir kaum vorstellen, wie mutig Elfriede gewesen sein muss, ohne ein Zuhause und ohne Unterstützung anzuzeigen. Die ganze Familie bis auf den Onkel gegen sich. Niemand glaubt ihr, sie wird beschämt und beschuldigt. Und trotzdem ist sie zur Polizei gegangen und hat versucht, mit dieser Anzeige ihre kleine Schwester zu schützen. Aber das Gericht glaubt ihr nicht. Es bezeichnet Elfriede als „in höchstem Grad unglaubwürdige Person“.

Für all das, was der Vater ihr sonst angetan hat, findet das Gericht Erklärungen: Das Fotografieren von Elfriede in nacktem Zustand sei der Beobachtung der Kindesentwicklung geschuldet, und wenn sie immer fortlaufe, sei es doch normal, dass der Vater sie danach nackt auf Ungeziefer und darauf, ob sie Verkehr gehabt habe, untersuche, schließlich habe sie dabei sicher „geschlechtliche Ausschweifungen“ gehabt. Und dass bei einem Parteigenossen mit sechs Kindern nicht alle Kinder ein eigenes Bett haben, sei auch nicht auffällig. Der Verdacht bestehe zwar, dass der Vater sich an ihr vergangen habe, aber mangels Beweisen erfolgt dann doch ein Freispruch. Er muss für Elfriede ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Elfriede wohnt immer noch zu Hause. Ich mag mir nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss. Die Mutter ist überhaupt nicht mehr da, sie arbeitet seit Kriegsbeginn beim Sanitätsdienst, schläft auf der Arbeitsstelle, ist nur alle sechs Tage mal zu Hause. Elfriede soll allein den elterlichen Haushalt führen, auf die Geschwister aufpassen, und sie ist den ganzen Tag den Übergriffen des Vaters ausgesetzt. Das hält sie nicht aus, sie reißt immer wieder aus. Ab März 1941 wird sie mehrfach von der Polizei bei Razzien in Hotels aufgegriffen, immer in Begleitung älterer Männer. Für die Polizei ein Zeichen dafür, dass sie sich heimlich prostituiert. Und das ist auch realistisch, denn wovon soll sie leben, wenn sie von daheim ausgerissen ist? Und Prostitution ist das, was sie von daheim kennt: der Vater behält all ihr Geld ein. Sie bekommt nicht mal Schuhe, wenn sie ihm nicht zu Willen ist. Elfriede ist daran gewöhnt, für Essen, ein Obdach und das Allernotwendigste sexuell zur Verfügung zu stehen. So kennt sie es von zu Hause. Sie wird von der Polizei verwarnt. Bald schmeißt der Vater sie aus der Wohnung, Elfriede weiß nicht, wohin und was tun. Sie prostituiert sich in einem Hotel und wird dort erneut von der Polizei aufgegriffen. Sie wird auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersucht. Sie betont, sie wolle ja normal arbeiten, sie habe mehrfach angeboten, anstelle ihrer Mutter deren Arbeitsstelle zu besetzen, aber dies sei abgelehnt worden. Und dann gibt sie zu, einen Soldaten als Freier gehabt zu haben. Von da an ist Elfriede für die Polizei eine besonders beobachtenswerte Person. Denn die Polizei sieht eine Gefährdung der Wehrmacht durch diese „heruntergekommene“ Frau, die noch dazu möglicherweise geschlechtskrank ist. Und dann meldet sich auch noch ihr Vater bei der Kripo und behauptet, daheim seien massenweise Briefe von Soldaten angekommen, alle für Elfriede. Die Behörden sind hoch alarmiert.

Aber in diesem Sommer 1941 passiert noch etwas anderes: Auch Elfriedes Schwester Erika wird von der Polizei aufgegriffen, weil sie von Zuhause weggelaufen ist, im Freien schläft und sich prostituiert, um zu überleben. Bei der Vernehmung sagt Erika ohne Scheu, ihr Vater sei doch selber schuld, wenn sie unsittliche Handlungen begehe, denn er habe ihr diese ja erst beigebracht. Der vernehmende Beamte kann es erst nicht glauben – nach mehreren Stunden aber ist er überzeugt: In dieser Familie stimmt überhaupt nichts. Früh um halb sechs wird Albert M. in seiner Wohnung festgenommen. Seine Kinder sowie seine Ehefrau werden auf die Wache bestellt. Alle Kinder bis auf das jüngste sagen aus, über Jahre missbraucht worden zu sein – Erika (18), Lieselotte (17), Albert (19) und Irmgard (16). Nur Elfriede weigert sich, auszusagen. Sie begründet dies damit, dass sie Angst hat, wieder in eine Anstalt zu kommen, so wie beim ersten Prozess. Sie vertraut den Behörden nicht mehr. Die restlichen Geschwister aber berichten auch in den Details übereinstimmend von sexuellem Kindesmissbrauch. Sie alle hätten lange nicht gewusst, dass dies verboten sei. Ihr Vater hätte ihnen gesagt, alle Väter würden dies mit ihren Kindern tun, und Kinder hätten zu gehorchen; wenn er dies nicht mit ihnen tue, würden sie krank. Da er bei Gericht gearbeitet hatte, waren sie davon ausgegangen, er wisse, wie weit er gehen könne. Der Vater leugnet alles.

In der Zwischenzeit wird Elfriede immer wieder als heimliche Prostituierte aufgegriffen. Mehrfach wird sie der „Frauenhilfsstelle“ zugeführt, immer wieder muss sie sich zwangsuntersuchen lassen. Sie ist traumatisiert, der Vater ist im Polizeigefängnis, und sie muss daheim auf fünf ebenso traumatisierte Geschwister aufpassen und den Haushalt führen und zudem Vollzeit arbeiten – sie verschläft, bis ihr gekündigt wird. Es ist alles zu viel für sie. Als ihr nachgewiesen wird, dass sie einen Schützen der Wehrmacht mit Tripper angesteckt hat, kommt sie für einen Monat ins Gefängnis – wegen „verbotenen Beischlafs in Folge einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Geschlechtskrankheit“.

Elfriede wird nie wieder freikommen. Denn noch während sie im Gefängnis ist, wird im Januar 1942 darüber beraten, was weiter mit ihr zu tun sei. Polizeiliche Vorbeugehaft wegen „asozialen Verhaltens“ wird vorgeschlagen. Im Hintergrund werden Gutachten über sie erstellt – und ein „Krimineller Lebenslauf über die Hausangestellte und Asoziale Elfriede M.“. In diesen Dokumenten wird alles, was Elfriede jemals erlebt, getan oder gesagt hat, gegen sie verwendet. Sogar, dass ihr Vater wegen „Blutschande“ in Untersuchungshaft sitzt, wird ihr angelastet: Sie entstamme also einer „asozialen“ Familie, in der der Vater die Kinder missbrauche, sei demzufolge erblich belastet, heißt es. Sie sei eine Bettnässerin, eine Herumtreiberin, absolut erziehungsunfähig, liederlich, verwahrlost, verschlagen und renitent. Sie sei „arbeitsscheu“ und habe eine „starke verbrecherische Neigung“. Durch ihre sexuelle Hemmungslosigkeit und Triebhaftigkeit stelle sie eine Ansteckungsgefahr für Männer im Allgemeinen und die Wehrmacht im Besonderen dar. Und man kommt zu dem Schluss: „Elfriede M. verdient nunmehr keine Rücksichtnahme mehr. Sie hat genügend bewiesen, dass sie überhaupt nicht den Willen hat, ein geordnetes Leben zu führen und zu arbeiten. Sie bedeutet infolge ihrer Arbeitsscheu, ihrer Trieb- und Hemmungslosigkeit eine Gefahr für die Allgemeinheit. Es erscheinen strengste Maßnahmen als erforderlich, um E.M. wieder an Arbeit und Ordnung zu gewöhnen.“ Und „strengste Maßnahmen“, das bedeutet: KZ. Am 23. Januar 1942 wird Elfriede ins KZ Ravensbrück eingeliefert.

In der Zwischenzeit läuft noch immer der Prozess, den ihre Geschwister gegen den sie missbrauchenden Vater angestrengt haben. Auch diesmal versucht er, seine Kinder als „gehässig“ darzustellen und die Anzeige als einen „Racheakt“ vor allem von Erika, die sich mit Männern „herumtreibe“, was er ihr verboten habe. Er schreibt Briefe an die Polizei und an Behörden, in denen er sie über seine „lügende Tochter“ Erika „aufklärt“, aber diesmal funktioniert diese Taktik nicht. Es sind zu viele Kinder gleichzeitig, die gegen ihn aussagen. Auch die Glaubwürdigkeitsgutachten der Kinder kommen zu dem Schluss, es sei kein Grund festzustellen, weswegen die Kinder dem Vater ohne Not so etwas Schwerwiegendes anlasten wollten. Im Gegenteil sei auffällig, dass sie nur widerwillig aussagten, und bemüht seien, ihn nicht unnötig zu belasten. Vor Gericht verweigern alle Kinder sowie die Ehefrau dann die Aussage. Albert M. wird dennoch verurteilt: am 10. April 1942 wird ihm wegen Sittlichkeitsverbrechens an seinen eigenen Kindern die Strafe von 5 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verkündet. Außerdem wird ein Parteigerichtsverfahren gegen ihn angestrengt, er wird aus der Partei ausgeschlossen. Das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter bekommt seine Frau nicht mehr. Albert M. rebelliert dagegen, will in Berufung gehen, schreibt wieder Briefe. Er drängt darauf, psychiatrisch untersucht zu werden, um zu beweisen, dass er all dies gar nicht getan haben könne. Seine Kinder seien erblich belastet und unglaubwürdig, schreibt er, Erika treibe sich mit Männern herum. Es nutzt ihm nichts mehr.

Aber das Urteil gegen Albert M. und seine bewiesene Schuld führen nicht dazu, dass Elfriede aus Ravensbrück wieder freikommt. Im Gegenteil scheint die Tatsache, dass sie einer Familie entstammt, in der der Vater derartige sexuelle Übergriffe auf seine eigenen Kinder getätigt hat, ihr eher zum Nachteil zu gereichen. Was ihre Entwicklung, auch ihre „Fehltritte“ erklären und entschuldigen könnte, wird zu etwas, das gegen Elfriede verwendet wird: als Beweis dafür, dass sie von einem Vater abstammt, der „asozial“ ist. Und somit muss auch sie „asozial“ sein – denn dies wird laut nationalsozialistischer Forschung vererbt. Und weist nicht all ihr Verhalten darauf hin, dass sie diesem erbbiologisch festgelegten Schicksal nicht entkommen kann? Die Verdorbenheit wird allein ihr zugeschrieben, sie gilt als hoffnungsloser Fall.

Am 8. Juli 1942, gerade mal einige Monate nach dem Urteil gegen ihren Vater, wird Elfriede, die mittlerweile von Ravensbrück nach Auschwitz verschafft worden ist, von den Nationalsozialisten ermordet. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 21 Jahre alt. Die Behörden heben ihre Akte auf: für „kriminalbiologische Forschungszwecke“ über „asoziale Sippen“. Als wäre das, was Elfriede angetan worden ist, Ausdruck ihrer eigenen Verkommenheit und nicht der ihres Vaters. Und als wäre es vererbbar. Ihr Vater bleibt nicht lange im Gefängnis. Er stellt mehrere Anträge auf Haftunfähigkeit wegen Krankheit, schreibt den Gauleiter an und den Führer: sein Sohn habe 1942 in Russland einen Kopfschuss erlitten, seine Tochter Elfriede sei in einem „oberschlesischen Arbeitsdienstlager“ an „Hitzschlag“ gestorben. Zwei Kinder habe er also, wie er es nennt, „dem Vaterland geopfert“ – ob er nicht wieder freikommen könne? Und tatsächlich kommt er 1944 frei. Die restliche Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt und 1945 ganz erlassen. Er verstirbt 1948. Das letzte, was ich von Elfriedes Familie lese, ist ein Antrag darauf, dass Elfriedes Mutter doch bitte als Hinterbliebene einer „VDN“, einer Verfolgten des Naziregimes, anerkannt werden möge. Als die Familie aufgefordert wird, darzulegen, warum Elfriede nach Auschwitz gekommen ist, herrscht Schweigen. Und dann: nichts mehr, nie wieder. Ewige Stille.

Als ich die letzte Akte beiseitelege, ist mir ganz schwindelig. Drei Tage habe ich insgesamt mit Elfriede verbracht. Drei Tage, in denen ich mich in ihre Geschichte wie in einen Sog hereingezogen fühlte. In denen ich entsetzt und erschrocken war über das Furchtbare, was ihr angetan worden ist, und fassungslos über den Mut von Elfriede und ihren Geschwistern. Drei Tage, in denen ich des Öfteren heimlich auf dem Archivklo geweint habe. Drei Tage, in denen ich immer gehofft habe, es würde eine Kehrtwende in dieser Geschichte eintreten. Aber nichts wurde besser, im Gegenteil. Ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs ist in Auschwitz ermordet worden. Mir ist klar, dass sie damit nicht die einzige ist. Aber für mich hat sie jetzt ein Gesicht, und sie hat einen Namen. Elfriede.

Und als ich an diesem dritten und letzten Tag das Archiv verlasse, fühle ich mich innerlich wie betäubt. Und ich habe das Gefühl, dass es knirscht unter meinen Schritten. Als würde ich über etwas Zersplittertes, Zerbrochenes laufen. Glasscherben. Oder Eissplitter. Oder mein Herz.

(c) Anne S. Respondek

Verwendete Quellen aus dem Staatsarchiv Leipzig:
(1) Polizeipräsidium Leipzig 20031, PP-S 2317/116, Albert M. wegen Sittlichkeitsverbrechens
(2) Landgericht Leipzig 20114, 07064 und 07065 und 02856, Albert M. wegen Sexualvergehens an seinen Kindern
(3) Amtsgericht Leipzig 20124, 01089, Elfriede M. wegen Diebstahls
(4) Erziehungs- und Pflegeheim Mittweida, 22211, 18, Elfriede M.
(5) Bezirkstag und Rat des Bezirks Leipzig 20237, 13223, M. N.N.
(6) Kriminalpolizei Leipzig PolPr 20031, PP-S 2218, Elfriede M.

Anmerkungen:
Victim Blaming (Beschuldigung des Opfers, Täter-Opfer-Umkehr) heißt, dass dem Opfer einer Gewalttat die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an der Tat zugeschrieben wird. Häufig geschieht dies nach sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigungen mit dem Ziel, den Täter zu entschuldigen und das Opfer einzuschüchtern und z.B. vom Erstatten einer Anzeige abzuhalten.