„Asoziale“ Frauen als Zwangsprostituierte für das Dritte Reich

Teil 3 der Artikelserie über KZ-Bordelle & das Dritte Reich als „größten Bordellbetreiber Europas“

Autorin: Anne S. Respondek

(Dieser Artikel ist im April 2024 in der Graswurzelrevolution erschienen.)

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden ab 1942 Bordelle gebaut, in denen männliche KZ-Häftlinge sich als Freier betätigen konnten. Diese KZ-Bordelle existierten in Mauthausen und Gusen, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz, Dachau, Neuengamme, Sachenhausen und Mittelbau-Dora. Die Frauen, die in diesen KZ-Bordellen anschaffen mussten, hatten fast alle eines gemeinsam: den schwarzen Winkel, der auf den Haftgrund der „Asozialität“ hinwies.

Aber wer oder was galt im Nationalsozialismus als „asozial“?

Dieser schwammige Begriff war auch im Dritten Reich keineswegs fest definiert. Der Rassenhygieniker Fred Dubitscher schrieb dazu in seiner „erb- und sozialbiologischen Untersuchung“: „(…) die Beschäftigung mit den Fragen der Asozialität verlangt in gleicher Weise kriminalbiologisches, sozialbiologisches, wirtschaftspolitisches, ärztlich-psychatrisches und erbbiologisches Denken und Urteilen. (…) Der Begriff ´asozial´ kennzeichnet ja doch eine seelisch-soziale Haltung in und zu der Gemeinschaft, die sich von der durchschnittlichen Haltung als abwegig im unerwünschten Sinn unterscheidet. (…) Die soziale Wertbeurteilung (also auch ´asozial´) ist ja doch primär ausschließlich Sache des Volksempfindens.“[1] Allgemein, so führte er aus, würden zur Gruppe der „Asozialen“ folgende Personen zählen: „Kriminelle, Verwahrloste, Arbeitsscheue, Bettler, Prostituierte, Rauschmittelsüchtige, Trunksüchtige, Fürsorgezöglinge, Vagabunden u. a.“[2] All diesen Menschen sei eines gemeinsam: „es handelt sich um Verhaltensweisen in Form von Handlungen oder Unterlassungen, die von der sozialen Norm abweichen und die dadurch Leiden oder Schäden verursachen.“[3]

Unterschieden wurde zwischen Menschen, die als „verwahrlost“ galten, und deren „asoziales“ Verhalten man ungünstigen äußeren Umständen zuschrieb und Menschen, deren unerwünschtes Verhalten man als ererbt auffasste. „Asoziale“ galten als Gefahr für das deutsche Volk, für den „gesunden Volkskörper“, und zwar auf biologischer, sozialer und finanzieller Ebene. In biologischer Hinsicht wurde ihnen unterstellt, sie würden ihre „Asozialität“ weitervererben und zudem durch „frühe Geschlechtsreife“ und „Triebhaftigkeit“ sehr viele (ebenfalls „asoziale“) Kinder bekommen. So würden sie das Erbgut des deutschen Volkes schädigen und „herabziehen“. Ihnen wurde vorgeworfen, durch ihr „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten das Volk in sozialer Hinsicht zu schädigen und zudem enorme Kosten zu verursachen, z.B. durch Heim- und Gefängnisaufenthalte oder indem sie der Fürsorge zur Last fielen. „Asoziale“ sollten über Erziehungs- und Bestrafungsmaßnahmen weggesperrt und mithilfe dieser „unschädlich“ gemacht werden – aber das reichte dem NS-Staat nicht. Denn im Dritten Reich galten nicht nur körperliche und seelische Beeinträchtigungen und Krankheiten als unerwünscht. Der Begriff des „moralischen Schwachsinns“ sollte alle Personengruppen umfassen, die sich kriminell, „gemeinschaftsfremd“, sexuell „triebhaft“ oder unangepasst verhielten – und da „Asozialität“ als erblich galt, und damit auch der „moralische Schwachsinn“, wurden viele dieser so kategorisierten Personen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht.

„Asozial“ zu sein wurde somit verbiologisiert. Es wurde nicht verstanden als Ausdruck einer finanziellen und sozialen Armut, sondern als Charakter- und Erbgutdefizit. „Asozial“ war immer auch eine Fremdzuschreibung. Niemand aus der – sehr homogenen – Gruppe der als „asozial“ klassifizierten Personen bezeichnete sich selbst so.

Der Kampf gegen „Asozialität“ war immer auch ein Kampf gegen arme und prekär lebende Menschen. Die Breite der gegen sie getroffenen Maßnahmen war beachtlich. In der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ wurden 1938 über 10.000 Männer, denen „Arbeitsscheu“ vorgeworfen wurde, in KZ eingeliefert. Damit änderte sich in den KZ die Zusammensetzung der Häftlingsgruppe, „Asoziale“ stellten ab sofort die größte Häftlingskategorie. Die Verhaftung der „Arbeitsscheuen“ war vielfach von den Sozial- und Fürsorgebehörden veranlasst worden.

Die gegen „Asoziale“ getroffenen Maßnahmen waren vielfältig und zeugten von enormer Härte: Bettlerrazzien, Unterbringungen in Arbeitshäusern, Entmündigungen von Personen durch Fürsorgeämter, Unterbringungen in geschlossenen Anstalten, Einweisung in spezielle, KZ-ähnliche Lager für Fürsorgeempfänger, außerdem Schutzhaft, Sicherungsverwahrung und Vorbeugehaft, also die Inhaftnahme von Personen, bevor diese überhaupt (erneut) strafrechtlich relevant in Erscheinung traten. Konkret zur Auslöschung der unerwünschten Personengruppe sollten die Zwangssterilisierungen und die Tötungen in den KZ beitragen – denn eine Besserung, Erziehung oder Versorgung von „Asozialen“ war nie das Ziel des Nationalsozialismus gewesen. Die subproletarische Klasse, die unerwünschte prekäre Schicht, sollte komplett ausgelöscht werden.

Im Laufe des Krieges fand ein bemerkenswerter Wandel in der „Asozialen“politik statt.

Hatten zunächst männliche Bettler, „Landstreicher“, Alkoholiker und „Arbeitsverweigerer“ im Fokus gestanden, konzentrierte sich die Verfolgung im Laufe des Dritten Reiches mehr und mehr auf „asoziale Sippen“ und auf sexuell freizügige Frauen – es fand sozusagen eine Feminisierung und Sexualisierung der „Asozialen“politik statt. Denn wer oder was genau „asozial“ war – das hatte keinen Endpunkt. Der Gummibegriff ließ sich endlos dehnen, immer neu deuten und erfasste somit ständig neue Betroffenengruppen. Frauen, die sich in den Augen der Behörden „herumtrieben“, die „sexuell hemmungslos“ waren oder „sittlich tiefstehend“, wurden nun ebenfalls erfasst und durch Polizei, Gesundheitsamt und Fürsorge verfolgt. Bereits die Unterstellung sexueller Unangepasstheit reichte aus, um in den Fokus der Ämter zu geraten. Jede sexuelle Freizügigkeit, so unterstellte man den Frauen, würde unweigerlich zu einem bestimmten Zeitpunkt dazu führen, dass die Frau sich prostituiere. Prostituierte waren sowieso als „Asoziale“ kategorisiert – aber nun reichte es bereits aus, unbezahlt sexuelle Kontakte zu haben. Wer in Verdacht stand, sich heimlich zu prostituieren, oder wer wechselnde Männerbekanntschaften pflegte, wer in bestimmten Lokalen schlechten Rufs allein oder mit fremden Männern verkehrte, wer ein ungeregeltes Einkommen hatte, der konnte von den Behörden als „hwG“ gelistet werden – als Person mit „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“. Dies galt als eine Art Vorstufe zur Prostitution und rechtfertigte bereits Maßnahmen wie Vorbeugehaft.

Die meisten der Frauen, die in den KZ-Bordellen gezwungen wurden, sich von männlichen KZ-Häftlingen sexuell missbrauchen zu lassen, waren wegen „Asozialität“ in die KZ eingeliefert worden. Ein Großteil der Frauen aus den KZ-Bordellen war also wegen ihrer Armut und ihres (vermeintlichen) Sexualverhaltens verfolgt und im KZ inhaftiert worden.

In der Häftlingsgemeinschaft standen diese „asozialen“ Frauen ganz weit unten.

Im KZ trafen verschiedene Nationalitäten, soziale Klassen und kulturelle Hintergründe aufeinander. Geschickt verstand es die NS-Führung, in den KZ verschiedene Personengruppen gegeneinander auszuspielen und so eine Solidarisierung untereinander sowie das Entstehen einer sich als „Häftlingsgemeinschaft“ verstehenden Gruppe zu verhindern. Dies gelang u.a. durch die rassistische Hierarchisierung (deutsche Häftlinge standen ganz oben in der Häftlingsordnung, ganz unten standen Juden, Sinti, Roma und Angehörige der Sowjetunion). Die Übertragung von Verwaltungsaufgaben an bestimmte Häftlinge im Austausch für Vorteile trug zur Spaltung der Häftlingsgruppen ebenso bei wie das Winkelsystem. Vor allem Grünwinklige („Kriminelle“) wurden von den anderen Häftlingen verachtet, aber auch Menschen mit schwarzen Winkeln, „Asoziale“ galten als Bodensatz der KZ-Inhaftierten. Die betroffenen Frauen waren damit doppelt stigmatisiert, als Frau und als „Gemeinschaftsfremde“ – und diese Diskriminierung ging eben nicht nur von der SS, sondern auch von den Mithäftlingen aus, denn auch in deren Sozialordnung teilte man Inhaftierte in „wertvolle“ und „minderwertige“ Mithäftlinge ein. Vor allem den schwarzwinkligen Frauen wurde vorgeworfen, ihre Inhaftierung durch ihre „moralischen Verfehlungen“ ja selbst verschuldet zu haben. Ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe wurde also im KZ fortgeführt – und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus distanzierten sich Gemeinschaften ehemaliger Häftlinge oft genug von den „asozialen“ ehemaligen Mithäftlingen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: die Frauen, die in den KZ-Bordellen zum anschaffen gezwungen wurden, waren Frauen, die wegen ihrer Armut und wegen (unterstellter) sexueller Unangepasstheit und Prostitution verfolgt und in KZ inhaftiert worden waren – und auch dort standen sie in der Sozialordnung ganz unten, wurden von SS und Mithäftlingen ausgegrenzt, stigmatisiert und diskriminiert.

Wie gelangten diese Frauen nun aber aus den KZ in die damals als „Sonderbauten“ bezeichneten KZ-Bordelle? Darum soll es in der nächste Folge dieser Reihe gehen.

(c) Anne S. Respondek


[1] Dubitscher, Fred, Erb- und sozialbiologische Untersuchungen, Leipzig 1942, S. 1 

[2] Ebd. S. 2

[3] Ebd.

Wehrmachtsbordelle

„Die Weibersache, das ist ein ganz düsteres Kapitel“ (1)

(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

„Ein geschlechtskranker Soldat kann keinen Dienst leisten; selbstverschuldete Dienstunfähigkeit aber ist eines deutschen Soldaten unwürdig! Von dir erwartet das Vaterland nicht nur volle soldatische Leistung, es will auch, daß du einst eine gesunde Familie gründest und Vater gesunder Kinder wirst!“ (2), so informiert ein Merkblatt der Wehrmacht die deutschen Soldaten über die Erwartungen des Staates an ihre Lebensführung.

Der Kampf gegen Geschlechtskrankheiten bekommt für die nationalsozialistische Führung spätestens mit Ausbruch des Krieges auch eine politische Dimension: allein Polen, so der  Leitende Sanitätsoffizier beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement im Oktober 1940, sei durch Geschlechtskrankheiten „stark verseucht“ (3), die Wehrmacht befürchtet einen hunderttausendfachen Ausfall deutscher Soldaten, die sich auf (verbotenen) Intimverkehr mit Polinnen einlassen, dort die Prostitution nutzen oder sexuell gewalttätige Übergriffe begehen. Schritt für Schritt hatte der nationalsozialistische Staat versucht, die teilweise Entkriminalisierung von Prostituierten bei gleichzeitiger Kriminalisierung von Bordellbetreibenden, die mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927 in Kraft getreten waren, rückgängig zu machen. 

Die Abschaffung von Zwangsuntersuchungen und die Verlagerung der Zuständigkeit von der Polizei auf die Gesundheitsämter widerriefen die Nationalsozialisten. Ziel war indes nicht, Prostitution abzuschaffen, sondern sie für den NS-Staat nutzbar zu machen.

Es entstanden nicht nur für Zivilisten zugängliche Bordellhäuser und -straßen mit kasernierten Prostituierten in den Städten, sondern auch Bordelle für Fremd-und Zwangsarbeiter, für KZ-Häftlinge, für Arbeiter der Organisation Todt, für Mitarbeiter der Reichsbahn, der Gestapo und Polizei, der SS und der Wehrmacht. Während für die Schaffung der Bordelle für KZ-Häftlinge das Motiv gewesen war, ihre Arbeitsleistung durch ein Belohnungssystem, welches einen Bordellbesuch beinhaltete, zu steigern, sah die Wehrmachtführung die Errichtung von Einrichtungen für die Soldaten aus anderen Gründen als notwendig an. Der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten in der Truppe hatte die Heeresärzte zu folgendem Schluss kommen lassen: „Geschlechtskrankheiten sind (…) reichlich verbreitet. Ihr häufiges Auftreten wird durch die außergewöhnlich starke heimliche Prostitution begünstigt. Es muß mit allen Mitteln darauf hingearbeitet werden, daß die Geschlechtskrankheiten in der deutschen Wehrmacht nicht weiter um sich greifen und daß der Geschlechtsverkehr mit gesundheitlich nicht kontrollierten weiblichen Personen unterbunden wird. Die einzige Möglichkeit, eine erfolgversprechende Kontrolle der Prostituierten durchzuführen, besteht nur bei den Insassen der Bordelle (…).“ (4)

„Sexualnot“ der Soldaten, mutmaßte man, führe zu Vergewaltigungen an Zivilistinnen besetzter Länder und zu unerwünschten homosexuellen Handlungen. (5) Dagegen helfe die Bereitstellung staatlich überwachter Bordelle. Vor allem in den Gebieten der Sowjetunion befürchtete man zudem, sich mit sogenannten „freien“, das heißt nicht kasernierten Prostituierten einlassende Soldaten könnten leichtes Opfer von Spionage werden. (6) Während nicht nachvollzogen werden kann, ob der Bordellbetrieb wirklich zu weniger Homosexualität und Spionage geführt hat, muss die Wehrmacht nach kurzer Zeit zugeben: die Triebabfuhrtheorie, nach der die Bereitstellung von Prostitution für die Truppe zu weniger Vergewaltigungen führt, ist gescheitert. Die wenigsten Soldaten, die in den besetzten Gebieten sexuelle Übergriffe begehen, kommen vor ein Gericht, die, die sich dort erklären müssen, greifen nun ab und an darauf zurück zu erklären, sie hätten gedacht, dass es sich um eine Prostituierte gehandelt habe. Sie werden nicht bestraft. (7) Weiterhin bemerkt die Wehrmacht durch den Bordellbetrieb bei den Soldaten eine veränderte Haltung gegenüber Frauen, und da diese die deutschen Frauen miteinbezieht, sorgt man sich um die Familienfähigkeit der Soldaten.  (8) Der Bordellbetrieb befriedige zudem, so kritische Stimmen innerhalb der Wehrmachtführung, nicht nur vorhandene Bedürfnisse, er erzeuge auch welche bei Männern, die sonst nie ins Bordell gegangen wären. Der Massenandrang, mit dem die Wehrmachtsbordelle zu kämpfen hatten, sei Resultat einer Art Schneeballsystems, dass es ohne die Bereitstellung von Bordellen gar nicht erst gegeben hätte: „Die Nachteile eines Bordells, der im Ganzen widerliche Massenbetrieb und die nicht zu unterschätzende Tatsache, daß hier in großer Zahl auch junge Soldaten und solche, die sonst kaum dazugekommen wären, von Kameraden mitgenommen und zum Verkehr mit Dirnen regelrecht genötigt werden, – diese zweifelsfreien Nachteile werden durch den Kontrollbetrieb in keiner Weise aufgewogen.“ (9)

Dennoch werden die Bordelle nicht geschlossen. Das „Standardbordell für Besatzungszwecke“ wird weiterhin im Operationsgebiet der Wehrmacht errichtet und unterhalten (so u.a. in Frankreich, Polen, Griechenland, Italien, Belgien und im gesamten Gebiet der Sowjetunion). Die Wehrmacht richtet Bordelle oft in den beschlagnahmten Häusern von Juden und Jüdinnen ein (10) oder sie übernimmt die Kontrolle über bereits bestehende Bordelle. Der Preis für einen Bordellbesuch wird auf drei Reichsmark festgesetzt (11), die Häuser unterstehen dem Ortskommandanten, im besetzten Polen der Zivilverwaltung. Wer die Häuser besuchen darf, unterliegt einer strengen Trennung. Zivilisten dürfen die Bordelle der Wehrmacht nicht besuchen und andersherum. (12)

Zugleich erfolgt oft eine Trennung nach Truppenteilen; Offizieren ist der Besuch von Mannschaftsbordellen immer untersagt. Für sie werden spezielle Bordelle eingerichtet, „Absteigehotels“ genannt. (13)

Sadomasochistische Praktiken sowie Verkehr ohne Kondom sind nicht erlaubt, (14), nach jedem Besuch muss der soldatische Freier sich sanieren lassen. (15) Die sich im Bordell befindlichen Prostituierten unterliegen zweimal wöchentlich einer Zwangsuntersuchung, (16), sie können jederzeit von einem soldatischen Freier wegen vorgeblicher Geschlechtskrankheit angezeigt werden: „Alle Prostituierten erhalten einen Ausweis für jeweils vorgenommene ärztliche Untersuchungen. Diesen Ausweis müssen sie unaufgefordert jedem sie benutzenden deutschen Soldaten vorzeigen.“ (17)

Die Verbringung der Frauen in die Bordelle erfolgt unterschiedlich. Zunächst kann die Wehrmacht auf die Gesundheitsamtakten des jeweiligen Gebietes zugreifen und damit feststellen, wer bereits Prostituierte ist oder im Verdacht steht, eine zu sein. Polizeimaßnahmen und Razzien folgen (18), festgesetzte Frauen und auch Frauen, die auf der Suche nach Ansteckungsquellen als geschlechtskrank angezeigt werden, werden zwangsuntersucht. (19)

Frauen, die trotz einer Geschlechtskrankheit mit Wehrmachtssoldaten Intimverkehr ausüben, erhalten empfindliche Strafen (20). Ein direkter Anlass zur Verbringung ins Bordell ist ein Erlass des Reichsstatthalters, wonach Polinnen, die „Geschlechtsverkehr mit Deutschen ausüben, in ein Bordell gebracht werden können.“ (21)

Sich dem Vorwurf, „Rassenschande“ auszuüben, muss sich zumindest im Bordell kein Soldat aussetzen. Heinrich Himmler erklärt für Wehrmacht, SS und Polizei die rassistischen Bestimmungen zumindest im Bordell als nichtig: „Der Geschlechtsverkehr eines Angehörigen der SS oder Polizei mit einer Polin wird grundsätzlich als militärisches Vergehen gerichtlich bestraft. Hierbei ist es unerheblich, ob zwischen den Beteiligten ein Liebesverhältnis besteht oder es sich nur um einen ein- oder mehrmaligen Kontakt gelegentlichen Geschlechtsverkehr ohne irgendwelche seelischen Bindungen handelt. (…) Ich wünsche unter keinen Umständen, daß eine Lockerung der Auffassungen über das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Polinnen eintritt. (…) Ich verkenne die Schwierigkeiten nicht, die in geschlechtlicher Hinsicht für die Männer der SS und Polizei im Generalgouvernement bestehen. Deswegen will ich auch gegen einen Verkehr in Bordellen oder mit unter behördlicher und ärztlicher Kontrolle stehenden Sittendirnen nichts einwenden, da hierbei weder irgendeine Zeugung noch irgendwelche inneren Bindungen zu erwarten sind.“ (22)

Weiter gilt: „Die Mädchen sind Polinnen. Der Verkehr mit den Polinnen in den Bordellen wurde nicht als ein gesellschaftlicher, der mit den Polen nach dem Erlaß des Führers verboten ist, angesehen. Die Beziehungen der Dirnen zu den wechselnden Besuchern (…) sind sachlich-wirtschaftlicher Art. Sie haben auch nicht den gesellschaftlichen Einschlag, den das öffentliche Kennenlernen auf der Straße, dem Strich oder den die sonstigen Formen des Kennenlernens haben. Ein gesellschaftlicher Verkehr setzt ein gewisses Maß an Achtung und geistigen Beziehungen voraus, die in den Bordellen nicht gegeben sind.“ (23)

Die Verbringung von Frauen anderer Nationalitäten in die Bordelle erfüllt für die Wehrmacht und ihre Soldaten auch den Zweck, Frauen als Frauen, Frauen als Angehörige anderer Länder und damit anderer Nationen selbst auf den mindergelittenen Status von Prostituierten, denen Achtung und Respekt nicht entgegengebracht werden müssen, herabzusetzen und somit als Mann und als Angehöriger einer vermeintlich höherwertigen Nation und „Rasse“ einen Besatzerstatus zu fixieren und zu demonstrieren. Dies gilt auch für Jüdinnen, deren Verschaffung in Wehrmachts- und SS-Bordelle de facto verboten wurde, dennoch gibt es vereinzelte Hinweise, dass auch sie, ebenso wie Romnja, Sintizza und auch schwarze Frauen in die Bordelle verbracht worden sind. (24)

In Frankreich werden „freie“ Prostituierte von den deutschen Besatzern kriminalisiert, sie versuchen der Verfolgung und der Inhaftnahme durch eine Meldung ins Bordell zu entkommen. Sie werden teilweise von Zuhältern in die Bordelle vermittelt oder versuchen mit der „freiwilligen“ Meldung aus dem Straflager zu entkommen. (25) Auch im Warthegau erfolgen Zugriff und Rekrutierung der Frauen über die Behörden – Gesundheitsamt, Kriminalpolizei, Gestapo und Heeresstreifen beteiligen sich an Selektion und Verschaffung in die Bordelle. (26). Weiter östlich erfolgt die Gewalt offensichtlicher: Frauen werden bei Razzien in Kinos, Cafés und vor dem Arbeitsamt aufgegriffen, sie werden vor die Wahl gestellt, sich ins Bordell zu melden oder aber zum Arbeitseinsatz in Deutschland gebracht zu werden (oftmals mit der Folge, vergewaltigt, misshandelt, getötet und von der Familie getrennt zu werden) (27) oder sie werden direkt verschleppt. (28)

In einem Fall verschleppter Mädchen in ein Militärbordell in der Ukraine stellte sich nach ärztlicher Untersuchung heraus, dass 85% der jungen Frauen zum Zeitpunkt der Ankunft im Bordell noch jungfräulich gewesen waren. (29)

Doch selbst wenn manche Meldung ins Bordell in einigen Fällen noch den Anschein von Freiwilligkeit haben sollte: Spätestens bei „Arbeitsaufnahme“ wird klar, dass es sich um Zwangsprostitution handelt. Oft wird den Frauen ein Merkblatt ausgehändigt, dass sie darüber informiert, sie würden bei Nichteinhaltung der im Bordell geltenden Regeln in ein Konzentrationslager verbracht. (30)

Im Bordell selbst werden die Frauen eingesperrt: der „Arbeitsvertrag“, wenn es einen gibt, ist nicht einseitig kündbar, Ausgang muss genehmigt werden und wenn, dann findet er nur begleitet statt, Urlaub zu Regenerationszwecken wird oft nicht genehmigt – auf „Arbeitsniederlegung“, Verweigern der Zwangsuntersuchungen oder gar Flucht stehen Geld- und Gefängnisstrafen, Straf- oder Konzentrationslager. (31) Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Frauen, die sich im Bordell mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hatten, vor allem im Osten Europas vom SD erschossen worden sind. (32)

Die Wehrmacht versucht, ihren Soldaten einen Anreiz zu geben, die Bordelle zu nutzen statt die freie Prostitution: „Die Qualität der Mädchen [sic!] wird laufend überwacht und darauf gesehen, daß nur jugendliche, ansehnliche und möglichst hübsche Mädchen eingestellt werden, weil nur auf diese Weise eine wirksame Konkurrenz zur freien Prostitution aufgenommen werden kann.“ (33) In der Folge kommt es in manchen Bordellen zu Massenandrängen wie im Bordell am Truppenübungsplatz Neuhammer: „In der Zeit vom 4.3. – 10.3.43 kamen durchschnittlich jeden Tag auf jede Prostituierte: im Ostlager 22, 6, im Westlager 25,7 Besucher. Am Sonntag, den 7.3.43, wurde die höchste Besucherzahl mit 27,6 bzw. 46,5 je Prostituierte erreicht. Da die Bordelle erst 7 Tage in Betrieb sind, ist mit einer Steigerung obiger Besucherzahlen zu rechnen.“ (34)

Vor allem aus Abhörprotokollen lässt sich erschließen, dass die soldatischen Freier um die Verbringungsmechanismen ins und um die Lebensbedingungen im Bordell gewusst haben: „In Warschau haben unsere Truppen vor der Haustür Schlange gestanden. In Radom war der erste Raum voll, während die LKW-Leute draußen standen. Jede Frau hatte in einer Stunde 14 bis 15 Mann. Sie haben da alle zwei Tage die Frau gewechselt.“ (35)

Das fehlende Mitgefühl mit den Frauen erklärt sich mit dem traditionellen Anspruch des Siegers und Besatzers, die Frauen des Gegners sexuell missbrauchen zu können, aber auch mit rassistischen Motiven (so wurde Französinnen und „Slawinnen“ abgesprochen, überhaupt eine Geschlechtsehre“ zu haben, an der sie verletzt werden könnten (36), zudem, sei, so die Soldaten, was den Frauen angetan worden war, nicht beträchtlich, sie seien ja vorher schon Prostituierte gewesen. (37).

Obwohl die Soldaten teilweise selbst konstatierten, die Wehrmachtsbordelle seien ein gewaltbesetztes Thema gewesen, hat sie das von den massenhaften Besuchen im Bordell, die für sie ja kein Zwang gewesen sind, nicht abgehalten. Den vom Staat für sie bereitgestellten Raum, sexuelle Gewalt auszuüben, haben damit viele von ihnen freiwillig genutzt. Dies diente nicht nur der sexuellen Bedürfnisbefriedigung, sondern auch der Identitätsversicherung als Mann und als Besatzer sowie der Verstärkung der Zugehörigkeit zu einer handlungsfähigen Tat- bzw. Tätergemeinschaft. Während die soldatischen Freier allerdings noch lange nach dem Krieg recht offen über ihre als „erotische Heldentaten“ empfundenen Handlungsweisen gesprochen und teilweise damit geprotzt haben, war es für die Frauen, die die Bordelle überlebt haben, nach dem Krieg lebensgefährlich, über das zu sprechen, was ihnen geschehen ist: der Ausschluss aus der Gesellschaft in ihrer Heimat war die Folge, teilweise aber auch Gefängnis, Deportation oder Todesstrafen wegen vermeintlicher „Kollaboration mit dem Feind“.

© Anne S. Respondek

Anmerkungen:

1) Wehrmachtangehöriger Felbert und Kittel, Abhörprotokoll  SRGG 1086, 28.12.1944, TNA, WO 208/4169, zitiert nach Neitzel, Soldaten, S. 153

2) Merkblatt für Soldaten. Merkblatt 53/13. „Deutscher Soldat! Merkblatt zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten“, Bundesarchiv Militärarchiv RH12-23-71

3) Leitender Sanitätsoffizier beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement, Spala, den 2. Oktober 1940, Bericht über die Bordelle für Heeresangehörige im Gen.-Gouv., Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1818, S. 1

4) Der Heeresarzt im Oberkommando des Heeres, Gen St d H / Gen Qu Az. 265 Nr. 17150=40, Abschrift. Betr.: Prostitution und Bordellwesen im besetzten Gebiet Frankreichs, H Qu OKH, den 16.7.1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

5) Vgl. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Nr. 8840/41 PA2 (I/Ia) Az. 15, H Qu OKH den 6. September 1941, Geheim. Betr.: Selbstzucht, Anlage 1 Nr. 18497/40, 31. Juli 1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

6) Vgl. Oberkommando des Heeres, Generalstab des Heeres, Generalquartiermeister, Az. 1271 IV b (IIa), Nr. I/13016/42, HQuOKH, den 20. März 1940, Betr.: Prostitution und Bordellwesen in den besetzten Ostgebieten, Bundesarchiv / Militärarchiv RH 12-23-1818

7) Vgl. Gertjejanssen, Wendy Jo, Victims, Heroes, Survivors. Sexual violence on the eastern front during World War II, Ph.D., University of Minnesota, 2004, S. 161

8) Disziplinarbericht der 8. Zerstörerflotte „Narvik“ für die Zeit vom 1. Juli 1942 bis 1. September 1943, BA/MA, RM 58/39

9) Wehrkreisarzt XVIII, Schreiben an den Heeressanitätsinspekteur in Berlin, 3.1.1945, NARA, RG-242 78/189, Bl. 761 f., hier Bl. 761, zitiert nach Mühlhäuser, Eroberungen, S. 236

10) Leitender Sanitätsoffizier beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement, Spala, den 2. Oktober 1940, Bericht über die Bordelle für Heeresangehörige im Gen.-Gouv., Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1818

11) Richtlinien für die Einrichtung von Bordellen in den besetzten Gebieten. Armeeoberkommando 6 O.Qu./IVb, A.H.Qu., am 23. 7. 1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH20-6-1009

12) Vgl. Der Heeresarzt im Oberkommando des Heeres, Gen St d H / Gen Qu Az. 265 Nr. 17150=4o, Abschrift. Betr.: Prostitution und Bordellwesen im besetzten Gebiet Frankreichs, H Qu OKH, den 16.7.1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

13) Anlage 3 zu ObdH Nr. 8840/41, PA2 (I/Ia) vom 6.9.41, Oberkommando des Heeres, Genu GenStdH, Nr. 11672/40 geh., HQu, den 7. August 1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

14) Der Heeresarzt im Oberkommando des Heeres, Gen St d H / Gen Qu Az. 265 Nr. 17150=4o, Abschrift. Betr.: Prostitution und Bordellwesen im besetzten Gebiet Frankreichs, H Qu OKH, den 16.7.1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371 sowie Leitender Sanitätsoffizier beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement, Spala, den 2. Oktober 1940, Bericht über die Bordelle für Heeresangehörige im Gen.-Gouv., Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1818

15) Der Heeresarzt im Oberkommando des Heeres, Gen St d H / Gen Qu Az. 265 Nr. 17150=4o, Abschrift. Betr.: Prostitution und Bordellwesen im besetzten Gebiet Frankreichs, H Qu OKH, den 16.7.1940, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

16) Ebd.

17) ADML, 80 W 37, undat. Dokument, Eingangsstempel Präfektur Maine-et-Loire: 11.7.1940, zitiert nach Meinen, Insa, Wehrmacht und Prostitution im besetzten Frankreich, Bremen 2002, S. 57

18) Oberkommando des Heeres, Generalstab des Heeres, Generalquartiermeister, Az. 255 IV b, Nr. 11244 / 40 (geh.), HQuOKH, 29. Juli 1940, Betr.: Prostitution und Bordellwesen in Belgien und im besetzten Gebiet Frankreichs, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1371

19) Der Reichsminister des Innern (i.V. gez. Dr. Conti), IVg 3473/39 5670, Betrifft: Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Berlin, den 18. September 1919, Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1818

20) Feldkommandantur 581, Verwaltungsstab, Vw.Gr. I/2 an die Kreiskommandanturen Rennes, St.-Malo, Fougéres, Redon, Betr.: Überwachung der Prostitution – hier polizeiliche Massnahmen und Strafen, Rennes, 4. April 1941, Bundesarchiv / Militärarchiv RH36-444

21) So zum Beispiel im Fall Maria K., Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizeileitstelle Posen. Gewerbsunzucht. Staatsarchiv Poznań, Sign.: PL 53/1024/18

22) Der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern, Tgb.Nr. III/491/42 Be./Ha., Führer-Hauptquartier, den 30.6.1942, Betr.: Geschlechtsverkehr von Angehörigen der SS und Polizei mit Frauen einer andersrassigen Bevölkerung, Bundesarchiv / Militärarchiv NS 19/1913, NS 7/266

23) Leitender Sanitätsoffizier beim Militärbefehlshaber im Generalgouvernement, Spala, den 2. Oktober 1940, Bericht über die Bordelle für Heeresangehörige im Gen.-Gouv., Bundesarchiv / Militärarchiv RH12-23-1818

24) Vgl. Gertjejanssen, Wendy Jo, Victims, Heroes, Survivors. Sexual violence on the eastern front during World War II, Ph.D., University of Minnesota, 2004, S. 195

25) Vgl. Meinen, Wehrmacht und Prostitution, S. 195, S. 204 – 212

26) Vgl. Respondek, Anne S., „‘Gerne will ich wieder ins Bordell gehen‘ – Maria K.s ‚freiwillige‘ Meldung für ein Wehrmachtsbordell“, Hamburg 2019, S. 41 – 69. Der hier vorliegende Aufsatz fasst die von mir in der genannten Publikation vorgestellten Rechercheergebnisse z.T. zusammen.

27) Vgl. Mühlhäuser, Regina, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941 – 1945, Hamburg 2010 S. 223 ff.

28) Vgl. Gertjejanssen, Victims, S. 177 – 186

29) vgl. Mühlhäuser, Eroberungen, S. 224

30) Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizeileitstelle Posen. Gewerbsunzucht. Staatsarchiv Poznań, Sign.: PL 53/1024/18, S. 43

31) Vgl. Respondek, „‘Gerne will ich wieder ins Bordell gehen‘“, S. 183 – 185

32) Vgl. Beck, Birgit, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939 – 1945, Paderborn 2004, S. 112

33) Lagebericht vom 2.10.1942. Blatt 16 zum Lagebericht, Bundesarchiv / Militärarchiv RW35-1221

34) Div.-Arzt 162.Inf.Div., o.U., den 12.3.43, Betr.: Bordelle auf dem Truppenübungsplatz Neuhammer. Bezug: Ferngespräch des stellv. Wehrkreisarztes VIII mit dem Adjutanten des Div.-Arztes am 11.3.43. An den Korpsarzt beim stellv.Gen.Kdo.VIII A.K. (Wehrkreisarzt VIII) Breslau. Bundesarchiv / Militärarchiv, RH 26-162-58

35) Wehrmachtangehöriger Wallus, Abhörprotokoll SRA 735, 14. 10. 1940, TNA, WO 208/4120, zitiert nach Neitzel, Sönke und Welzer, Harald, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Sterben und Töten, Frankfurt am Main 2011, S. 221

36) BA-ZNS S 167, Gericht der 7. Pz.Div., Bl. 13, Rechtsgutachten vom 21. Juli 1940, zitiert nach Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 287 und BA-ZNS S 152, Gericht der 35. Inf.Div.., Bl. 9f: Feldurteil vom 24. Oktober 1943, hier Bl.9, zitiert nach Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 290

37) Beckermann, Ruth, Jenseits des Krieges, Ehemalige Wehrmachtssoldaten erinnern sich, Wien 1998, S. 134, zitiert nach Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 115

https://www.graswurzel.net/gwr/2019/08/wehrmachtsbordelle/

Elfriede M.

Wie ein Missbrauchsopfer im Nationalsozialismus zur Täterin gemacht wurde – Prostitutionspolitik im Nationalsozialismus

(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

Ich bin Historikerin. Mein Forschungsschwerpunkt ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Kriegssituationen. Konkret forsche ich zum Thema der Bordelle für Wehrmacht und SS. Das bedeutet häufig, emotional belastendes Quellenmaterial zu sichten. Briefe kleiner Mädchen zu lesen, die über Gewalt gegen jüdische Frauen im Vorfeld des Massakers der Wehrmacht an 33.000 Jüdinnen und Juden im ukrainischen Babi Yar schreiben zum Beispiel. Oder psychiatrische Gutachten über Frauen, die 20 Jahre, nachdem sie den Horror der Wehrmachtsbordelle überlebt haben, noch zusammenbrechen, wenn sie darüber reden sollen und die sagen, sie wünschten, man hätte sie damals gleich umgebracht. Oder Bücher zu schreiben über polnische Verkäuferinnen, die zwangsweise in Wehrmachtsbordelle verbracht worden sind und letztlich nach Auschwitz kamen, weil sie sich gewehrt haben. All das aufzuarbeiten ist wichtig. Aber es ist auch emotional schwer wegzupacken.

Als ich an einem Tag im Herbst ins Archiv gehe, erwarte ich keinen so schwerwiegenden Fund. Ich recherchiere zu einem Nebenthema, denn ich suche noch Material, welches aufzeigt, dass die Strategie, welche die Nationalsozialisten in Sachen Prostitution verfolgten, eine zwiegespaltene war: während sie einerseits Prostituierte kriminalisierten, sie gar als „Asoziale“ ins KZ steckten, waren andererseits sie es, die die Bordelle überhaupt erst wieder eröffneten, ja, die ganze Bordellstraßen bauten, in denen sie prostituierte Frauen kasernierten. In den besetzten Gebieten taten sie dies ebenso: Prostitution wurde hart verfolgt – und zugleich wurden Bordelle für Wehrmacht und SS errichtet. Dies führte zu der absurden Situation, dass auch Frauen, die „draußen“ als Prostituierte verfolgt und deswegen verhaftet worden waren, später im Wehrmachtsbordell genau zu dem gezwungen wurden, weswegen man sie einst verhaftet hatte: Prostitution. Denn der sexuelle Kontakt zu Soldaten sollte vor allem in den besetzten Gebieten nur noch im überwachten Wehrmachtsbordell stattfinden. Dies sollte dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten dienen, aber auch verhindern, dass deutsche Soldaten die Frauen anderer Länder als Menschen wie sie wahrnahmen, als Subjekte überhaupt.

An diesem Tag suche ich Fallbeispiele dafür, dass auch an der Heimatfront Frauen, von denen es hieß, sie hätten sexuelle Kontakte mit deutschen Soldaten, verfolgt wurden – denn die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten war für die Wehrmacht Chefsache. Ein geschlechtskranker Soldat kann nicht kämpfen – und wenn alles schiefläuft, kann er auch keinen Nachwuchs mehr zeugen. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Mir werden also im Archiv einige Fallakten deutscher Frauen vorgelegt, die Ärger mit den Behörden bekamen, weil sie deutsche Soldaten mit Geschlechtskrankheiten angesteckt haben sollen. Es sind ungefähr 50 Kripoakten. Normalerweise schaffe ich es, 50 Akten an einem einzigen Tag durchzulesen. An diesem Tag aber schaffe ich nur eine, nämlich die, die mir gleich als erstes vorgelegt wird. Es ist die von Elfriede.

Elfriede wird 1941 verhaftet, weil ihr vorgeworfen wird, dass sie den Schützen Paul Sch. mit Tripper angesteckt hat. So weit nichts Außergewöhnliches – aber bereits auf den ersten Seiten der Akte, die die Kriminalpolizei Leipzig über Elfriede angelegt hat, macht mich etwas stutzig. Denn Elfriede, die im Dezember 1920 in Leipzig geboren wurde und fünf Geschwister hat, wird bereits mit 15 das erste Mal von der Kriminalpolizei aufgegriffen. Sie ist von zu Hause weggelaufen, zum 21. Mal. Sie schläft draußen, und sie friert erbärmlich. Weil sie mehrfach Kleidung wie z.B. Mäntel aus Schulen stiehlt, bekommt sie mit der Polizei zu tun. Der Vater, auf die Wache bestellt, um die Tochter heimzuholen, gibt an, sie sei seit der ersten Periode „verstimmt“, wisse bisweilen nicht mehr, was sie tue, und laufe dann von zu Hause fort. Zurück komme sie dann stets in einem halbverhungerten Zustand. Elfriede kommt in eine Nervenklinik, aus der sie aber flieht. Erneut schläft sie in leerstehenden Häusern nahe ihres Elternhauses, stiehlt Kleidung, weil ihr so kalt ist. Zu essen hat sie nichts. Die Kripo führt sie erneut der Nervenklinik zu, in der man zu dem Schluss kommt, dass es eigentlich kaum möglich sei, dass Elfriede nicht wisse, was sie tue. Auch die Kripo vermerkt, Elfriede mache einen normalen Eindruck, allerdings wirke sie manchmal plötzlich verstört und wisse dann keine Antwort mehr.

Bis 1938 wird Elfriede immer und immer wieder aufgegriffen, es ist stets dasselbe Muster: sie läuft von zu Hause fort, stiehlt, was sie braucht, um sich in der Nachtkälte zu wärmen. Sie berichtet der Kripo, sie wisse nicht, warum sie von zu Hause entweiche, es überkomme sie wie ein Drang, aber sie verspüre an diesen Tagen immer ein Angstgefühl ihren Eltern gegenüber, und sie empfinde als schrecklich, dass sie und ihre Geschwister nicht auf der Straße spielen dürften, sondern sich, da die Mutter viel arbeite, nachmittags allein mit ihrem Vater in der Wohnung aufhalten müssen. Das halte sie nicht aus. Der Drang, fortzulaufen und zu stehlen, überkomme sie aber nur, wenn sie sich zu Hause aufhalten müsse, nicht, wenn sie weit fort sei und arbeite.

Als sie schließlich im Verdacht steht, ein Fahrrad gestohlen zu haben, werden Gutachten über sie angefordert. Die Volksschule, die sie besucht hat, teilt mit, sie habe schon damals nicht vermocht, sich der Gemeinschaft anzuschließen, und sei wegen ihres verschlossenen Wesens von der Klasse abgelehnt worden. Außerdem habe sie selten Schularbeiten gemacht, da sie als Älteste der Geschwister daheim den Haushalt führen musste. Der Schulleiter findet, Elfriede mache den Eindruck einer „schwachsinnigen“ Person. Auch der Vater, Albert M., schlägt in dieselbe Kerbe und bezeichnet seine eigene Tochter als „geistig minderwertige Person“. Die Kripo beurteilt Elfriede wie folgt: „Die M. ist eine sehr verlogene Person. Macht auch den Eindruck einer geistig minderwertigen Person. Doch geht sie mit viel Geschick und Überlegung bei strafbaren Handlungen ans Werk.“ Das Amtsgericht verurteilt Elfriede wegen Diebstahls, danach kommt sie in ein Mädchenheim. Der Vater, ein ehemaliger Fürsorgepfleger, der in den letzten Jahren vor seiner Schwerbeschädigtenrente als Justizangestellter gearbeitet hatte, fragt in Briefen mehrfach nach, ob in dem Leipziger Mädchenheim auch wirklich eine Erziehung im nationalsozialistischen Geiste gewährleistet sei. Er ist seit Mai 1933 Parteimitglied, unterzeichnet auch privat mit „Heil Hitler“, ist Mitglied der NSV, seine Frau Ortsgruppenleiterin beim Frauenbund. Und er beschwert sich beim Jugendamt darüber, dass man den Eltern Elfriede entzogen hat, sie seien schwer getroffen: „Ich habe als politischer Leiter meinem Führer den Eid geleistet, den halte ich bis zum Tode (…). Ich kenne nur Volksgemeinschaft. Meine Familie und ich sind schwer geschädigt, durch das was man uns angetan. So ist uns bewiesen worden, wie man Schwerbeschädigte und kinderreiche Familien schützt. Es ist uns bewiesen und klargemacht worden, dass nationalsozialistischer Geist noch immer nicht überall eingezogen ist, dass es immer noch zweierlei Parteigenossen gibt, und ich lasse mir dies nicht gefallen. Einer fällt, entweder ich oder derjenige Mensch, der mein Unglück gewollt.“

Und tatsächlich wird Elfriede wieder aus dem Mädchenheim entlassen. Und der Vater erstattet dem Jugendamt Bericht über Elfriedes Entwicklung: Sie gehe wieder arbeiten, schreibt er, aber er behalte ihr Geld ein. Nur ab und an gebe er ihr ein paar Groschen. Das Problem des nächtlichen Einnässens, das Elfriede seit ihrem 8. Lebensjahr habe, habe er jetzt gelöst, indem er sie nachts mehrfach wecke.

Das ist der Moment, in dem es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Ein Vater, der seine Kinder nachmittags einsperrt, während die Mutter nie da ist. Der seine Tochter als „geistig minderwertig“ bezeichnet. Ein Mädchen, das immer wieder von zu Hause wegläuft, sogar im Winter, das lieber draußen schläft und hungert und stiehlt, als nach Hause zu gehen. Und das ins Bett pinkelt, jede Nacht. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht. Ich ahne, warum Elfriede nicht nach Hause möchte. Und ich kann die Akte nicht mehr weglegen, kann jetzt nicht weitere Fälle anschauen – ich muss wissen, wie es weitergegangen ist. Ich bestelle bei der Archivaufsicht für den nächsten Tag alle Akten, die ich zu Elfriede finden kann: ihre Heimakten, und auch eine Gerichtsakte. Außerdem finde ich noch eine weitere Gerichtsakte zu ihrem Vater. Auch die bestelle ich.

Und am nächsten Tag lese ich weiter Elfriedes Geschichte. Wühle mich durch die Akten, die seit 80 Jahren niemand mehr geöffnet hat. Und ich sehe, dass im November 1938 Elfriedes Onkel zum Jugendamt geht und dort die Vermutung äußert, dass Elfriede von ihrem Vater missbraucht wird. Mehrfach habe er Übergriffigkeiten ihr gegenüber beobachtet, sagt er, auch existierten Nacktbilder von ihr, die der Vater gefertigt hatte. Er versuche, Elfriedes Vertrauen zu gewinnen, vor allem, seit sie immer wieder fortlaufe, aber sie sei ganz und gar verschlossen, richtiggehend verstockt. Weil Elfriede nicht aufhört, sich „herumzutreiben“, kommt sie in ein Heim in Mittweida. Von dort berichtet man über sie, es sei außerordentlich schwer, an sie heranzukommen, sie sei sehr still und mache einen verschüchterten Eindruck. Sie sei gerne für sich, lese viel und liebe es, draußen in der Natur zu sein. Aber auch darüber möchte Elfriede nicht reden: „Sie schien intensiv zu erleben. Ihre Naturschilderungen bewiesen ihre seelische Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit. Nur selten äußerte sie sich aber über solche Erlebnisse, sie verschloss alles in sich.“ Sie steht abseits, aber ein mangelndes Gemeinschaftsgefühl attestiert man ihr nicht. Den kleineren Kindern gegenüber zeigt sie sich liebevoll und zugewandt. Auch im Heim nässt Elfriede jede Nacht ein. Der Heimleitung fällt auf, dass Elfriede überhaupt kein Ekelgefühl besitzt, sie schläft im urinnassen Bettzeug weiter, sie wäscht sich nicht, wechselt nicht ihre Kleidung, wischt emotionslos Erbrochenes weg und reinigt ohne zu protestieren Toiletten. Von ihren Kameradinnen wird sie wegen ihrer „hochgradigen Unsauberkeit abgelehnt“, die Mädchen behaupten, Elfriede „stinke wie eine Leichenhalle“. Als ich das lese, frage ich mich, ob nicht auch das ein weiterer Hinweis auf sexuellen Kindesmissbrauch ist – der Versuch, Übergriffe abzuwehren, indem man ungewaschen ist und stinkt. Das Jugendamt sieht den Heimaufenthalt nicht als Erfolg an. Im September 1939 schreibt man: „Elfriede ist ein undiszipliniertes Mädchen (…)“, sie sei träge, sie falle durch Liederlichkeit und Schmutz auf. „Sie wird nie imstande sein, dem Guten um seiner selbst willen zu gehorchen.“ Sie sei „gemütsarm, empfindet schwach oder gar nicht“, „kann sich nicht zusammenreißen“, ist „verbockt“ und „lügnerisch“. „Finster und unfreundlich ist ihr Gesichtsausdruck“, bemerkt man, und dass ein „stinkender Geruch“ von ihr ausgeht. Man schlussfolgert: „Ihr Heimaufenthalt hat bisher keinerlei Erfolge erzielt. Es besteht wenig Aussicht, dass sie noch zum Besseren einlenkt.“ Über ihre Eltern schreibt man, sie machten einen „primitiven Eindruck“, sie seien „psychopathisch“. Vor allem der Vater sei ein bekannter Schreiber von Beschwerdebriefen an alle möglichen Behörden und Beamten, er sei ein Querulant – und in der Tat möchte er, dass Elfriede aus dem Heim zu ihm zurückkehrt. Dafür wendet er sich sogar schriftlich an den Reichsjugendführer.

Bevor Elfriede das Heim verlässt, spricht man sie auf die vermuteten „besonderen Beziehungen“ zu ihrem Vater an. Man vermerkt: „Sie ist geständig.“ Und ich ärgere mich darüber, dass man so schreibt, als hätte sie sich einer Straftat schuldig gemacht. Und in der Tat hat sie das, denn das erste, was geschieht, ist, dass ein Verfahren wegen „Blutschande“ eingeleitet wird – gegen Elfriede. Es wird zwar schnell eingestellt, da die „Blutschande“ in absteigender Linie erfolgte und Elfriede noch minderjährig ist, aber es muss sie dennoch erschreckt und eingeschüchtert haben. Sie läuft mehrfach aus dem Heim weg, kann Arbeitsstellen danach nicht halten, stiehlt wieder, weil sie Hunger hat. Der Kripo gegenüber äußert sie: „Ich habe es getan, weil ich in Not war.“ Und der vernehmende Kriminaloberassistent kommt zu dem Schluss: „Die M. machte bei der Vernehmung einen ruhigen, sachlichen, zurückgezogenen und wahrheitsliebenden Eindruck. Ich hatte das Gefühl, als wenn sie die Wahrheit sagte.“

Noch im Jahr 1939 zeigt Elfriede ihren Vater an. Es muss unglaublich schlimm für sie gewesen sein, in der Zeit zwischen Anzeige und Urteil zu Hause bei ihrem Vater wohnen zu müssen. Der Prozess gegen ihren Vater gerät für Elfriede zur Katastrophe. Über sie werden mehrere Glaubwürdigkeitsgutachten aus früheren Schulen und Heimen angefordert, Kripo, Jugendamt, Berufsschule und Nervenklinik sowie das Jugendgericht berichten über sie – und alle Berichte sind negativ und stellen sie in einem sehr schlechten Licht dar. Sie sei eine „haltlose, hochgradig unsaubere (…) Psychopathin“, heißt es. Außerdem sei sie arbeitsscheu und erziehungsresistent, auf Prügel und Auszanken reagiere sie verstockt oder weine „beleidigt große Tränen“. „Im Charakter hat sie etwas unechtes“, schreibt man, sie sei „charakterlich als wenig glaubwürdig anzusehen“. Außerdem neige sie zu Unwahrheiten, und sie habe eine rege Fantasie.

Über ihren Vater wird kein solches Leumunds- oder Führungszeugnis angefordert. Stattdessen wird betont, dass er ein „alter Kämpfer“ ist, ein Parteigenosse und politischer Leiter. Durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erlangt er bei Gericht eine besondere Reputation, auch die Tatsache, dass er kriegsverschüttet worden war und dass er das Frontkämpferehrenkreuz besitzt, hilft ihm hier weiter.

Während des Prozesses will der Vater Elfriede als „geistig minderwertig“ klassifizieren lassen. Obwohl auch der Onkel für Elfriede aussagt, glaubt man ihr nicht. Denn sie ist eine bettnässende „Herumtreiberin“, die gegen einen ehrwürdigen Parteigenossen aussagt. Außerdem wird alles getan, um sie als verrückt dastehen zu lassen. All ihre Aufenthalte in Nervenkliniken werden ihr vorgehalten, außerdem ihre Verhaltensauffälligkeiten, die sie seit Beginn ihrer Periode (und damit auch seit Beginn des Missbrauchs) zeigt. Außerdem wird betont, dass sie sich bei ihren Fluchtversuchen mit Männern „herumtreibt“. Es ist die NS-Version dessen, was auch heute noch anzeigenden Opfern von Sexualstraftaten widerfährt: „Die denkt sich das alles nur aus“, „die ist auf irgendeinem Rachefeldzug“, „die ist doch eh verrückt“, „ich kann mir das bei dem gar nicht vorstellen“ und „die hatte bestimmt gerade ihre Tage und dreht deswegen so durch“ – sowie natürlich die komplette Durchleuchtung des sexuellen Vorlebens der Anzeigenden. Elfriede hatte schon mal einen Freund, und mit diesem auch Geschlechtsverkehr gehabt. Für das Gericht ein Hinweis auf ihre „Verdorbenheit“ und ihre „Triebhaftigkeit“.

Elfriede sagt vor Gericht aus, dass ihr Vater mehrfach mit ihr den Geschlechtsakt vollzogen habe. Sie berichtet, der Missbrauch habe 1935 begonnen, als ihre Mutter bei einem Frauenschaftsabend gewesen sei. Die Schwere der Handlungsweise habe sie damals nicht erkannt, sie habe geglaubt, dies sei normal, bis sie später durch einen Zeitungsartikel darüber aufgeklärt worden sei, dass nicht alle Väter dies mit ihren Kindern machen. Ihrer Mutter habe sie nichts davon erzählt, da sie sich so geschämt habe. Zweimal die Woche habe der Vater sie derart missbraucht. Sie vermute, dass er dies auch mit ihrer kleinen Schwester Erika tue. Die aber leugnet: Der Vater hätte sie nie angefasst, weil sie ganz anders sei als Elfriede. In diesem Nebensatz verrät Erika einiges über die Stimmung in der Familie: Elfriede ist das schwarze Schaf. Sie hat angezeigt. Und dies wird nicht als Versuch gewertet, ihre Geschwister zu schützen, sondern in der Familie wird die Erzählung von Elfriede als Familienzerstörerin etabliert: Elfriede lügt. Und wenn sie nicht lügt und der Vater sich wirklich an ihr vergriffen hat, dann wird es ihre Schuld sein: sie ist „so eine“, sie „treibt sich rum“, es liegt irgendwie an ihrer Art. Es ist also nie passiert und wenn doch, dann ist es ihre eigene Schuld. Als ich diesen Nebensatz lese – „denn ich bin ganz anders als Elfriede“ –, kann ich mir kaum vorstellen, wie mutig Elfriede gewesen sein muss, ohne ein Zuhause und ohne Unterstützung anzuzeigen. Die ganze Familie bis auf den Onkel gegen sich. Niemand glaubt ihr, sie wird beschämt und beschuldigt. Und trotzdem ist sie zur Polizei gegangen und hat versucht, mit dieser Anzeige ihre kleine Schwester zu schützen. Aber das Gericht glaubt ihr nicht. Es bezeichnet Elfriede als „in höchstem Grad unglaubwürdige Person“.

Für all das, was der Vater ihr sonst angetan hat, findet das Gericht Erklärungen: Das Fotografieren von Elfriede in nacktem Zustand sei der Beobachtung der Kindesentwicklung geschuldet, und wenn sie immer fortlaufe, sei es doch normal, dass der Vater sie danach nackt auf Ungeziefer und darauf, ob sie Verkehr gehabt habe, untersuche, schließlich habe sie dabei sicher „geschlechtliche Ausschweifungen“ gehabt. Und dass bei einem Parteigenossen mit sechs Kindern nicht alle Kinder ein eigenes Bett haben, sei auch nicht auffällig. Der Verdacht bestehe zwar, dass der Vater sich an ihr vergangen habe, aber mangels Beweisen erfolgt dann doch ein Freispruch. Er muss für Elfriede ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Elfriede wohnt immer noch zu Hause. Ich mag mir nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss. Die Mutter ist überhaupt nicht mehr da, sie arbeitet seit Kriegsbeginn beim Sanitätsdienst, schläft auf der Arbeitsstelle, ist nur alle sechs Tage mal zu Hause. Elfriede soll allein den elterlichen Haushalt führen, auf die Geschwister aufpassen, und sie ist den ganzen Tag den Übergriffen des Vaters ausgesetzt. Das hält sie nicht aus, sie reißt immer wieder aus. Ab März 1941 wird sie mehrfach von der Polizei bei Razzien in Hotels aufgegriffen, immer in Begleitung älterer Männer. Für die Polizei ein Zeichen dafür, dass sie sich heimlich prostituiert. Und das ist auch realistisch, denn wovon soll sie leben, wenn sie von daheim ausgerissen ist? Und Prostitution ist das, was sie von daheim kennt: der Vater behält all ihr Geld ein. Sie bekommt nicht mal Schuhe, wenn sie ihm nicht zu Willen ist. Elfriede ist daran gewöhnt, für Essen, ein Obdach und das Allernotwendigste sexuell zur Verfügung zu stehen. So kennt sie es von zu Hause. Sie wird von der Polizei verwarnt. Bald schmeißt der Vater sie aus der Wohnung, Elfriede weiß nicht, wohin und was tun. Sie prostituiert sich in einem Hotel und wird dort erneut von der Polizei aufgegriffen. Sie wird auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersucht. Sie betont, sie wolle ja normal arbeiten, sie habe mehrfach angeboten, anstelle ihrer Mutter deren Arbeitsstelle zu besetzen, aber dies sei abgelehnt worden. Und dann gibt sie zu, einen Soldaten als Freier gehabt zu haben. Von da an ist Elfriede für die Polizei eine besonders beobachtenswerte Person. Denn die Polizei sieht eine Gefährdung der Wehrmacht durch diese „heruntergekommene“ Frau, die noch dazu möglicherweise geschlechtskrank ist. Und dann meldet sich auch noch ihr Vater bei der Kripo und behauptet, daheim seien massenweise Briefe von Soldaten angekommen, alle für Elfriede. Die Behörden sind hoch alarmiert.

Aber in diesem Sommer 1941 passiert noch etwas anderes: Auch Elfriedes Schwester Erika wird von der Polizei aufgegriffen, weil sie von Zuhause weggelaufen ist, im Freien schläft und sich prostituiert, um zu überleben. Bei der Vernehmung sagt Erika ohne Scheu, ihr Vater sei doch selber schuld, wenn sie unsittliche Handlungen begehe, denn er habe ihr diese ja erst beigebracht. Der vernehmende Beamte kann es erst nicht glauben – nach mehreren Stunden aber ist er überzeugt: In dieser Familie stimmt überhaupt nichts. Früh um halb sechs wird Albert M. in seiner Wohnung festgenommen. Seine Kinder sowie seine Ehefrau werden auf die Wache bestellt. Alle Kinder bis auf das jüngste sagen aus, über Jahre missbraucht worden zu sein – Erika (18), Lieselotte (17), Albert (19) und Irmgard (16). Nur Elfriede weigert sich, auszusagen. Sie begründet dies damit, dass sie Angst hat, wieder in eine Anstalt zu kommen, so wie beim ersten Prozess. Sie vertraut den Behörden nicht mehr. Die restlichen Geschwister aber berichten auch in den Details übereinstimmend von sexuellem Kindesmissbrauch. Sie alle hätten lange nicht gewusst, dass dies verboten sei. Ihr Vater hätte ihnen gesagt, alle Väter würden dies mit ihren Kindern tun, und Kinder hätten zu gehorchen; wenn er dies nicht mit ihnen tue, würden sie krank. Da er bei Gericht gearbeitet hatte, waren sie davon ausgegangen, er wisse, wie weit er gehen könne. Der Vater leugnet alles.

In der Zwischenzeit wird Elfriede immer wieder als heimliche Prostituierte aufgegriffen. Mehrfach wird sie der „Frauenhilfsstelle“ zugeführt, immer wieder muss sie sich zwangsuntersuchen lassen. Sie ist traumatisiert, der Vater ist im Polizeigefängnis, und sie muss daheim auf fünf ebenso traumatisierte Geschwister aufpassen und den Haushalt führen und zudem Vollzeit arbeiten – sie verschläft, bis ihr gekündigt wird. Es ist alles zu viel für sie. Als ihr nachgewiesen wird, dass sie einen Schützen der Wehrmacht mit Tripper angesteckt hat, kommt sie für einen Monat ins Gefängnis – wegen „verbotenen Beischlafs in Folge einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Geschlechtskrankheit“.

Elfriede wird nie wieder freikommen. Denn noch während sie im Gefängnis ist, wird im Januar 1942 darüber beraten, was weiter mit ihr zu tun sei. Polizeiliche Vorbeugehaft wegen „asozialen Verhaltens“ wird vorgeschlagen. Im Hintergrund werden Gutachten über sie erstellt – und ein „Krimineller Lebenslauf über die Hausangestellte und Asoziale Elfriede M.“. In diesen Dokumenten wird alles, was Elfriede jemals erlebt, getan oder gesagt hat, gegen sie verwendet. Sogar, dass ihr Vater wegen „Blutschande“ in Untersuchungshaft sitzt, wird ihr angelastet: Sie entstamme also einer „asozialen“ Familie, in der der Vater die Kinder missbrauche, sei demzufolge erblich belastet, heißt es. Sie sei eine Bettnässerin, eine Herumtreiberin, absolut erziehungsunfähig, liederlich, verwahrlost, verschlagen und renitent. Sie sei „arbeitsscheu“ und habe eine „starke verbrecherische Neigung“. Durch ihre sexuelle Hemmungslosigkeit und Triebhaftigkeit stelle sie eine Ansteckungsgefahr für Männer im Allgemeinen und die Wehrmacht im Besonderen dar. Und man kommt zu dem Schluss: „Elfriede M. verdient nunmehr keine Rücksichtnahme mehr. Sie hat genügend bewiesen, dass sie überhaupt nicht den Willen hat, ein geordnetes Leben zu führen und zu arbeiten. Sie bedeutet infolge ihrer Arbeitsscheu, ihrer Trieb- und Hemmungslosigkeit eine Gefahr für die Allgemeinheit. Es erscheinen strengste Maßnahmen als erforderlich, um E.M. wieder an Arbeit und Ordnung zu gewöhnen.“ Und „strengste Maßnahmen“, das bedeutet: KZ. Am 23. Januar 1942 wird Elfriede ins KZ Ravensbrück eingeliefert.

In der Zwischenzeit läuft noch immer der Prozess, den ihre Geschwister gegen den sie missbrauchenden Vater angestrengt haben. Auch diesmal versucht er, seine Kinder als „gehässig“ darzustellen und die Anzeige als einen „Racheakt“ vor allem von Erika, die sich mit Männern „herumtreibe“, was er ihr verboten habe. Er schreibt Briefe an die Polizei und an Behörden, in denen er sie über seine „lügende Tochter“ Erika „aufklärt“, aber diesmal funktioniert diese Taktik nicht. Es sind zu viele Kinder gleichzeitig, die gegen ihn aussagen. Auch die Glaubwürdigkeitsgutachten der Kinder kommen zu dem Schluss, es sei kein Grund festzustellen, weswegen die Kinder dem Vater ohne Not so etwas Schwerwiegendes anlasten wollten. Im Gegenteil sei auffällig, dass sie nur widerwillig aussagten, und bemüht seien, ihn nicht unnötig zu belasten. Vor Gericht verweigern alle Kinder sowie die Ehefrau dann die Aussage. Albert M. wird dennoch verurteilt: am 10. April 1942 wird ihm wegen Sittlichkeitsverbrechens an seinen eigenen Kindern die Strafe von 5 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verkündet. Außerdem wird ein Parteigerichtsverfahren gegen ihn angestrengt, er wird aus der Partei ausgeschlossen. Das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter bekommt seine Frau nicht mehr. Albert M. rebelliert dagegen, will in Berufung gehen, schreibt wieder Briefe. Er drängt darauf, psychiatrisch untersucht zu werden, um zu beweisen, dass er all dies gar nicht getan haben könne. Seine Kinder seien erblich belastet und unglaubwürdig, schreibt er, Erika treibe sich mit Männern herum. Es nutzt ihm nichts mehr.

Aber das Urteil gegen Albert M. und seine bewiesene Schuld führen nicht dazu, dass Elfriede aus Ravensbrück wieder freikommt. Im Gegenteil scheint die Tatsache, dass sie einer Familie entstammt, in der der Vater derartige sexuelle Übergriffe auf seine eigenen Kinder getätigt hat, ihr eher zum Nachteil zu gereichen. Was ihre Entwicklung, auch ihre „Fehltritte“ erklären und entschuldigen könnte, wird zu etwas, das gegen Elfriede verwendet wird: als Beweis dafür, dass sie von einem Vater abstammt, der „asozial“ ist. Und somit muss auch sie „asozial“ sein – denn dies wird laut nationalsozialistischer Forschung vererbt. Und weist nicht all ihr Verhalten darauf hin, dass sie diesem erbbiologisch festgelegten Schicksal nicht entkommen kann? Die Verdorbenheit wird allein ihr zugeschrieben, sie gilt als hoffnungsloser Fall.

Am 8. Juli 1942, gerade mal einige Monate nach dem Urteil gegen ihren Vater, wird Elfriede, die mittlerweile von Ravensbrück nach Auschwitz verschafft worden ist, von den Nationalsozialisten ermordet. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 21 Jahre alt. Die Behörden heben ihre Akte auf: für „kriminalbiologische Forschungszwecke“ über „asoziale Sippen“. Als wäre das, was Elfriede angetan worden ist, Ausdruck ihrer eigenen Verkommenheit und nicht der ihres Vaters. Und als wäre es vererbbar. Ihr Vater bleibt nicht lange im Gefängnis. Er stellt mehrere Anträge auf Haftunfähigkeit wegen Krankheit, schreibt den Gauleiter an und den Führer: sein Sohn habe 1942 in Russland einen Kopfschuss erlitten, seine Tochter Elfriede sei in einem „oberschlesischen Arbeitsdienstlager“ an „Hitzschlag“ gestorben. Zwei Kinder habe er also, wie er es nennt, „dem Vaterland geopfert“ – ob er nicht wieder freikommen könne? Und tatsächlich kommt er 1944 frei. Die restliche Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt und 1945 ganz erlassen. Er verstirbt 1948. Das letzte, was ich von Elfriedes Familie lese, ist ein Antrag darauf, dass Elfriedes Mutter doch bitte als Hinterbliebene einer „VDN“, einer Verfolgten des Naziregimes, anerkannt werden möge. Als die Familie aufgefordert wird, darzulegen, warum Elfriede nach Auschwitz gekommen ist, herrscht Schweigen. Und dann: nichts mehr, nie wieder. Ewige Stille.

Als ich die letzte Akte beiseitelege, ist mir ganz schwindelig. Drei Tage habe ich insgesamt mit Elfriede verbracht. Drei Tage, in denen ich mich in ihre Geschichte wie in einen Sog hereingezogen fühlte. In denen ich entsetzt und erschrocken war über das Furchtbare, was ihr angetan worden ist, und fassungslos über den Mut von Elfriede und ihren Geschwistern. Drei Tage, in denen ich des Öfteren heimlich auf dem Archivklo geweint habe. Drei Tage, in denen ich immer gehofft habe, es würde eine Kehrtwende in dieser Geschichte eintreten. Aber nichts wurde besser, im Gegenteil. Ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs ist in Auschwitz ermordet worden. Mir ist klar, dass sie damit nicht die einzige ist. Aber für mich hat sie jetzt ein Gesicht, und sie hat einen Namen. Elfriede.

Und als ich an diesem dritten und letzten Tag das Archiv verlasse, fühle ich mich innerlich wie betäubt. Und ich habe das Gefühl, dass es knirscht unter meinen Schritten. Als würde ich über etwas Zersplittertes, Zerbrochenes laufen. Glasscherben. Oder Eissplitter. Oder mein Herz.

(c) Anne S. Respondek

Verwendete Quellen aus dem Staatsarchiv Leipzig:
(1) Polizeipräsidium Leipzig 20031, PP-S 2317/116, Albert M. wegen Sittlichkeitsverbrechens
(2) Landgericht Leipzig 20114, 07064 und 07065 und 02856, Albert M. wegen Sexualvergehens an seinen Kindern
(3) Amtsgericht Leipzig 20124, 01089, Elfriede M. wegen Diebstahls
(4) Erziehungs- und Pflegeheim Mittweida, 22211, 18, Elfriede M.
(5) Bezirkstag und Rat des Bezirks Leipzig 20237, 13223, M. N.N.
(6) Kriminalpolizei Leipzig PolPr 20031, PP-S 2218, Elfriede M.

Anmerkungen:
Victim Blaming (Beschuldigung des Opfers, Täter-Opfer-Umkehr) heißt, dass dem Opfer einer Gewalttat die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an der Tat zugeschrieben wird. Häufig geschieht dies nach sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigungen mit dem Ziel, den Täter zu entschuldigen und das Opfer einzuschüchtern und z.B. vom Erstatten einer Anzeige abzuhalten.

„… aus sanitären Gründen vernichtet“

Julie H.: Ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet  – Prostitution im Nationalsozialismus

(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

Als im März 1939 ihre christlich-deutschen Pflegeeltern die Adoption rückgängig machen, muss die 19-jährige Julie H. wieder ihren alten, jüdisch klingenden Geburtsnamen tragen.

Sie hat jetzt kein Zuhause mehr, findet keine Arbeit, und die Nationalsozialisten sind sehr daran interessiert, ihre genaue „Rassezugehörigkeit“ festzustellen – soll sie jetzt als „Volljüdin“, als „Halbjüdin“ oder als „Mischling 1. Grades“ weiterverfolgt werden?

Julie H. steht unter Druck.

Sie will überleben.

Aber wie?

Da verfällt sie auf einen Trick, der ihr die Rückkehr in die vermeintlich sichere „Volksgemeinschaft“ ermöglichen soll.

Doch dann greift ein Mann zur Waffe – und alles geht ganz schrecklich schief.

Sie wollen alles ganz genau wissen. Bei ihrer Verhaftung am 9. März 1940 in Düsseldorf werden ihr schwerwiegende Dinge vorgeworfen: Hotelbetrug, heimliche Prostitution und Rassenschande. Und da sie eine jüdische Mutter hat, die in New York wohnt, vermutet die Gestapo sogar, sie könnte eine Spionin sein: „Sie gefährdet nach dem Ergebnis der staatpolizeilichen Feststellungen durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem sie dringend verdächtig ist, sich zum Nachteil des Deutschen Reiches zu betätigen.

Jetzt stellt die Gestapo Julie H. viele sehr intime Fragen. Mit wie vielen Männern sie geschlafen habe in den letzten 12 Monaten, also seit sie nicht mehr Zuhause wohnt? Wie hießen die Männer, was für Berufe haben sie? Wann genau hat sie mit ihnen geschlafen und wo? Hat sie etwas dafür bekommen, vielleicht Geld? Wussten diese Männer, dass sie Jüdin ist und haben sie sich folglich der Rassenschande schuldig gemacht? Welche Lokale hat sie besucht, welche Pensionen und Hotels aufgesucht, und wer war mit dabei?

Julie H. nennt unter dem Druck der Vernehmung Namen. Sie benennt einen Unteroffizier, mit dem sie ein Liebesverhältnis gehabt habe. Einen Arzt, einen Kellner, einen Hauptmann, einen Oberstleutnant, einen Zahlmeister, einen Leutnant, noch einen Leutnant. Sie hätte sich all diesen Männern unter anderem Namen vorgestellt, es sei diesen Männern nicht bewusst gewesen, dass sie Jüdin sei. Aller Geschlechtsverkehr habe in Pensionen und Hotels stattgefunden, einmal aber auch in einer Türnische.

Die Gestapo holt sie am nächsten Tag zu einer erneuten Vernehmung aus der Zelle.  Sie sagt: „In der Zwischenzeit sind mir noch einige Männer eingefallen, mit denen ich in der Zeit von November 1939 bis Februar 1940 noch geschlechtlich verkehrt habe.“ Sie benennt: einen Obertruppführer des Reichsarbeitsdienstes, einen Brauereibesitzer, einen Landwirt („Der Landwirt wusste, dass ich Jüdin bin. Im Laufe unserer Unterhaltung hatte ich ihm auf seine Frage, ich sehe aus wie eine Jüdin, gesagt, dass ich in Wirklichkeit auch eine sei. Der Herr erklärte mir, das störe ihn nicht, in seiner Familie sei einer seiner Großeltern gleichfalls nicht arisch.“), einen Schneider, einen Zahlmeister vom Luftgaukommando. Da sind gefährlich viele Militärpersonen dabei, findet die Gestapo. Und ist eine Jüdin, deren Mutter in den USA lebt, nicht wirklich eine geeignete Verräterin von Militärgeheimnissen? Aber zumindest dieser Verdacht erhärtet sich nicht. Julie H. beteuert, mit den Männern nicht über militärische Angelegenheiten gesprochen zu haben. Auch in den Briefen, die ausgetauscht wurden, sei davon nie die Rede gewesen. Eines beruhigt die Gestapo aber auch eindrücklich: die Gefahr der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter Soldaten. Denn die Nationalsozialisten brauchen gesunde Soldaten und zeugungsfähige Männer, die den Erhalt der „arischen Rasse“ sichern. Julie H. wird ermahnt, sich nicht mehr mit deutschen Soldaten einzulassen. Sie gibt zu Protokoll: „Ich sehe ein, dass mein moralischer Lebenswandel in der letzten Zeit, insbesondere der übermäßige Geschlechtsverkehr vor allem mit Militärpersonen, zu verurteilen ist. Ich gebe zu, dass hierdurch die Gefahr bestand, Geschlechtskrankheiten der Wehrmacht zu verbreiten. Nach meiner evtl. Entlassung werde ich einen andern Lebenswandel anfangen und bitte meine vorliegenden Verfehlungen milde zu beurteilen.“ Als die Vernehmungen beendet sind, unterstreicht die Gestapo in den Protokollen die Namen von Frauen, mit denen Julie H. unterwegs war in den Lokalen und Pensionen, um Männer kennenzulernen. Es sind die Ehefrau eines Oberfeldwebels und die Frau eines Militärgeistlichen, die jetzt nicht nur in Verdacht stehen, ihre Männer zu betrügen, sondern auch, sich heimlich zu prostituieren. Auch sie werden von der Gestapo hören.

Dass Julie H. jetzt in den Vernehmungsprotokollen als „Jüdin“ geführt wird, ist neu. Gerade ein Jahr zuvor galt sie noch als Deutsche. Das liegt daran, dass ihre Mutter, die mittlerweile in den USA lebende Rosa H., sie zwar geboren hat, Julie H. aber schon 5 Tage nach der Geburt von einem als „arisch“ geltenden Ehepaar adoptiert worden ist. Sie heißen Henriette und Heinrich Pl. und geben Julie einen neuen Namen: „Margot Pl.“ heißt sie jetzt. Sie lebt bei ihren neuen Eltern, besucht mehrere Schulen. Danach absolviert sie das „Landjahr“, wird dort sogar „Kameradschaftsführerin“. In den Bund Deutscher Mädel soll sie eintreten – aber ihre Pflegemutter interveniert: „Die anschließend beabsichtigte Aufnahme in den Bund Deutscher Mädel wurde nicht vollzogen, weil meine Pflegemutter (…)  mich nicht gehen ließ. Sie sagte mir, ich sollte Zuhause bleiben und sie sehe es nicht gerne, wenn ich draußen herumliefe.“

Sie fängt verschiedene Ausbildungen an, bricht sie immer wieder ab – mal krankheitsbedingt, mal, weil sie es „nicht mehr aushält“. Sie arbeitet hier und dort als Aushilfe, in Lebensmittelgeschäften, bei Versicherungen, in Druckanstalten, im Gaumamt, bei Kraftfahrspeditionen und Zeitungen. Aber sie geht immer wieder von dort weg, es sind viele Wechsel in kurzer Zeit. Zuletzt ist sie Stenotypistin. Manchmal wohnt sie nicht Zuhause, manchmal schon – so auch von November 1938 bis Januar 1939. In dieser Zeit mischt die Pflegemutter sich in ihr Liebesleben ein – sie solle das Verhältnis zum bereits anderweitig verlobten Paul K. beenden. Der Streit schaukelt sich hoch, schließlich erwähnt die Pflegemutter gegenüber Paul K., dass ihre Tochter Jüdin sei. Das Verhältnis besteht dennoch weiter. Im Januar 1939 verlässt die Tochter das Elternhaus – ob sie des Hauses verwiesen wurde oder ihren Eltern wegen ihrer Arbeitslosigkeit wegen nicht zur Last fallen wollte, darüber besteht keine Einigkeit.

Im März 1939 aber wird der Kindesannahmevertrag aufgelöst, die Adoption rückgängig gemacht: „auf Grund schlechten Lebenswandels haben die Adoptiveltern die Adoption rückgängig gemacht, weswegen Julie H.  ihren Namen Margot Pl. ablegen und sich jetzt wieder H. nennen lassen muss, angeblich hat sie das erst recht auf die schiefe Bahn gebracht“, schreiben die Behörden.

Der Vorgang beruht auf dem §12 I des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 12.4.1938. Jetzt heißt Margot also nicht mehr Margot, sondern, wie bei ihrer Geburt, wieder Julie H. – Und ihr Nachname ist typisch jüdisch, sie ist sofort erkennbar als eine Frau, die zur „arischen Volksgemeinschaft“ angeblich nicht mehr gehört.

Sie lebt jetzt, ausgestoßen vom elterlichen Zuhause und aus der sicheren Volksgemeinschaft, der sie als Margot Pl. noch angehört hatte, in verschiedenen Hotels und Pensionen. Paul K. hält sie aus. Auch ein italienischer Stoffhändler namens Giovanni unterhält mit ihr Verkehr gegen Sachwerte: den dafür erhaltenen Pelzmantel setzt Julie H. in Geld um, um sich Lebensmittel zu kaufen. Dann beginnt sie, mit vielen verschiedenen Männer zu schlafen, um irgendwie durchzukommen. Geld bekommt sie kaum dafür, aber Essen und ein Obdach, wie die Gestapo feststellt: „Als Entgelt für den Geschlechtsverkehr wurde nach ihren Angaben von den Männern für sie größtenteils die gemeinsamen Zechen und das Hotelzimmer bezahlt.“ Die Gestapo befindet: „Bei der H. handelt es sich um eine total verdorbene Frauenperson“, sie sei „in ihrer sexuellen Begierde unersättlich“ – und die Behörden leiten Strafverfahren (u.a. Rassenschande, Kuppelei, Beamtenbestechung, Vergehen gegen die Kriegsnotverordnung) gegen viele der Männer ein, mit denen Julie H. geschlafen hat.

Sehr wichtig ist für die Gestapo, festzustellen, welcher „Rasse“ Julie H. denn nun angehört. Als sie ihre Adoptiveltern noch hatte, galt sie als deutsch. Jetzt herrscht bei den Behörden Verwirrung. Ist Julie H. Volljüdin? Oder Halbjüdin? Oder Mischling 1. Grades? Und haben sich ihre Sexualpartner denn nun der „Rassenschande“ schuldig gemacht oder nicht? Julie H. selbst bezeichnet sich als „glaubenslos“, sie gehört keiner Konfession, keiner Religion an. Wenn sie von den nationalsozialistischen Behörden als „jüdisch“ bezeichnet wird, dann ist das also nicht religiös gemeint, sondern beruht auf „Erbbiologie“ und „Rassenkunde“. Die Gestapo versucht sogar, den Vater von Julie H. ausfindig zu machen, um ihren „Rassestatus“ einschätzen zu können. Sie scheitert daran – und führt Julie H. zunächst als „Halbjüdin“, denn die „Rassezugehörigkeit konnte nicht einwandfrei geklärt werden“. Später wird Julie H. in den Ermittlungsakten dann nur noch als „Volljüdin“ bezeichnet werden.

Zunächst wird Julie H. inhaftiert. Dass sie sich „herumgetrieben“ hat, steht für die Behörden fest. Dass sie sich heimlich prostituiert hat, kann ihr aber nicht nachgewiesen werden. Außerdem ist Julie H. krank, sie leidet mehrfach an Mittelohrentzündungen und an Kiefervereiterung. Sie ist nicht haftfähig – und die Kosten für die Aufenthalte im Gefängniskrankenhaus möchte der deutsche Staat sich gerne sparen. Also kommt Julie H. wieder frei: „Die Pflegeeltern des Schutzhäftlings haben sich bereit erklärt, ihre Pflegetochter wieder in die Hausgemeinschaft aufzunehmen und ihren Lebenswandel zu überwachen“ – überwacht wird Julie H. in den folgenden Monaten aber auch von der Gestapo. Die befindet, es sähe eigentlich alles ganz gut aus, und Julie H. gehe sogar wieder einer regelmäßigen Beschäftigung nach: „Die Überwachung hat bisher Nachteiliges nicht ergeben. Ihre Namensänderung von H. auf Pl. – Namen der Adoptiveltern – ist erneut in die Wege geleitet.“

Was die Gestapo zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Julie H. wünscht sich nach ihren Erfahrungen als Adoptivkind nicht nur Liebe und eine eigene Familie. Sondern sie fürchtet sich auch schrecklich  davor, als aus Familie und „Volksgemeinschaft“ Ausgestoßene erneut schutz- und obdachlos zu sein und verfolgt zu werden. Den Status als Vogelfreie will sie nie wieder erleben. Ihre Eltern haben ihr den „deutschen“ Namen schon einmal weggenommen. Sie könnten es wieder tun, auf sie ist aus ihrer Sicht kein Verlass. Wie aber kann Julie H. jetzt wieder untertauchen in der Masse der „Volksgemeinschaft“? Für sie ist klar: sie muss einen Mann mit einem deutschen Namen finden, der sie heiratet. Den Druck, der auf ihr liegt, gibt sie weiter und verlegt sich auf eine Masche: sie beginnt Verhältnisse mit verheirateten Männern, behauptet dann, schwanger von ihnen zu sein, informiert die Ehefrauen, um eine Scheidung zu erreichen und fordert, geehelicht zu werden.

Das hat Julie H. schon mehrfach versucht. Bis jetzt hatte sie damit bei keinem ihrer Verhältnisse Erfolg.

Aber im November 1940 hat sie damit nicht nur keinen Erfolg mehr, sondern ihr Todesurteil unterschrieben. Denn der verheiratete Herr O., mit dem sie sich in einer Beziehung wähnt, verliert, als er derart erpresst wird, die Nerven.

Herr O. ist Gefängniswärter. Und dort, im Gefängnis, lernt er Julie H. auch kennen. Später wird er bestreiten, schon zu ihrer Haftzeit eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Aber spätestens als sie freikommt, befinden sich die beiden in einem Verhältnis, sie schlafen auch miteinander. Weil Julie H. damals im Prozess ist, erneut ihren deutschen Adoptivnamen tragen zu dürfen, hat O. keine Bedenken, sich wegen „Rassenschande“ schuldig zu machen. In zivil und in Uniform geht er mit ihr aus, sie besuchen öffentliche Lokale. So geht das wochenlang. Seine Frau ahnt zu diesem Zeitpunkt nichts, aber dann werden die beiden durch ein anonymes Schreiben denunziert und O. muss seiner Frau die Wahrheit sagen.

Es ist die Nacht vom 2. auf den 3. November 1940, als die Situation lebensgefährlich eskaliert. Das Ehepaar kommt nach Hause, beide alkoholisiert. Seit Wochen stehen beide unter Druck, Frau O. wird durch Anrufe terrorisiert, in denen Julie H. sie auffordert, ihren Mann endlich freizugeben, denn der habe sie geschwängert und müsse sie jetzt heiraten. Die Lage sei dringlich, sie befinde sich bereits im 5. Monat, behauptet Julie H. – Als Frau O. auf die Anrufe nicht mehr reagiert, verlegt sich Julie H. darauf, sie zu besuchen. Sie will alles tun, um diese Heirat zu erwirken – und ihr eigenes Leben vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen.

Auch an diesem Abend entlädt sich der Konflikt in einem Streit zwischen den Eheleuten, es wird laut. Frau O. macht ihrem Mann Vorwürfe, sich mit Julie H. überhaupt eingelassen und ihr dann auch noch ein Kind gemacht zu haben. Sie fühlt sich dem Terror, den ständigen Anrufen und Besuchen, schutzlos ausgeliefert. Beide schreien sich an, Frau O. geht ins Schlafzimmer, knallt mit der Tür. Wenig später folgt Herr O. ihr – in der Hand hat er eine Taschenpistole. Er bringe sie jetzt alle beide um, droht er. In Todesangst flieht Frau O. aus der Wohnung, rennt halbnackt auf die Straße, um ihr Leben zu retten. Schlotternd hält sie es eine ganze Weile in der nächtlichen Novemberkälte aus. Doch da sie nicht weiß, wohin sie gehen soll, kehrt sie schließlich in die Wohnung zurück. Ihr Mann wartet hinter der Haustür auf sie. Sie bettelt und fleht, dass er von seinem Vorhaben ablässt. Für diesen Abend gelingt dies: beide legen sich ins Bett, schlafen vor Übermüdung ein.

Am nächsten Morgen geht Frau O. zur Polizei.

Und die reagiert sofort. O. wird der Dienst als Gefängniswärter untersagt, Uniform, Ausrüstungsstücke und Ausweise werden ihm abgenommen: „Da Frau Ostertag sich fürchtete, dass ihr Mann wenn er wieder nach Hause käme, seine Selbstmordabsichten durchführen könnte und weil Ostertag tatsächlich eine geladene Taschenpistole mit sich führte, habe ich ihn im Einverständnis mit seiner vorgesetzten Dienststelle, bis zur weiteren Entscheidung in Schutzhaft genommen.“, schreibt der diensthabende Beamte ins Protokoll.

In der Befragung versucht Herr O., seinen gewaltsamen Übergriff gegen die eigene Frau und auch seinen angedachten Suizid herunterzuspielen. Er habe lediglich die Vorwürfe seiner Frau nicht mehr ausgehalten: „Um sie einzuschüchtern und den Lärm zu unterbinden, drohte ich  mit meiner Pistole. Die Absicht, mich oder meine Frau zu erschießen, habe ich nicht gehabt.“

Die nationalsozialistischen Behörden finden, der Versuch des Ehemannes, seine Frau zu töten und sich anschließend selbst das Leben zu nehmen, sei die Schuld von Julie H.

Am 7. November 1940 wird sie festgenommen. Es liegt sowieso noch eine vierwöchige Gefängnisstrafe vor ihr, weil sie zwei Pullover gestohlen hat. Zeit genug für die Gestapo, sich ausführlich mit ihrem Lebenslauf zu beschäftigen und eine „Sozialprognose“ abzugeben. Diese fällt denkbar ungünstig aus. Bereits in der späten Jugend sei Julie H. ein „verkommenes Mädchen“ gewesen, „lügnerisch, zum Stehlen neigend und (…) herumtreiberisch“. Mit Soldaten habe sie Geschlechtsverkehr gepflegt, damit angeblich die Gesundheit der Wehrmacht gefährdet. Dass sie versucht hat, Männer an sich zu binden, indem sie behauptet, schwanger zu sein, ist für die Gestapo und die Staatsanwaltschaft nicht hinnehmbar: „Die H. hat durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie nicht gewillt ist, ihren unsoliden Lebenswandel aufzugeben. Durch ihre Skrupel- und Zügellosigkeit in sexueller Hinsicht bedeutet sie eine ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung.“ Und da sie „trotz eingehender Belehrung und Verwarnung ihr asoziales Verhalten nicht änderte, dadurch die Volksgemeinschaft schädigt und zu der Befürchtung Anlass gibt, dass sie nach Freilassung ihr Treiben fortsetzt“, bleibt aus Sicht der Behörden nur eins: Julie H. wird aus dem Gefängnis zwar entlassen, wird aber direkt in Schutzhaft genommen – und von da direkt ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überwiesen.

Jetzt sind alle Verbindungen, die Julie H. hatte und an die sie sich so verzweifelt klammerte, gekappt. Ihre Adoptivmutter geht wegen ihr nur noch ein einziges Mal zu den Behörden: um Papiere wie Schulzeugnis, Versicherungskarte, Landjahrbuch und Arbeitszeugnisse abzugeben. „Die frühere Stiefmutter der Julie Sara H., Frau Pl., hat die anliegenden Papiere hier abgegeben, damit sie der H. wieder zur Verfügung gestellt werden können. Frau Pl. erklärt, jegliche Beziehungen zu der H. abgebrochen zu haben.“ Jetzt ist Julie H. durch nichts mehr geschützt. Kein „arischer“ Mann hat sie geheiratet, die Pflegeeltern untersagen ihr das Führen des deutschen Namens, stoßen sie aus der Familie aus wie die „Volksgemeinschaft“ sie ausstößt: weil sie angeblich Jüdin ist, weil sie sich „asozial“ verhält und weil sie eine „sich herumtreibende“ Frau ist, die die deutschen Männer mit Geschlechtskrankheiten anstecken und den „arischen Volkskörper“ verseuchen könnte.

Julie H. stirbt angeblich am 9. Februar 1942 im KZ Ravensbrück. „Angeblich“, weil das Todesdatum genauso gefälscht sein könnte wie die angegebene Todesursache „Lungenentzündung“. Wann und wie genau Julie H. im KZ Ravensbrück wirklich gestorben ist, kann nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden. Der offizielle Schnellbrief der Kommandantur des KZ Ravensbrück an die Gestapo Düsseldorf lautet jedenfalls so:  „Die seit dem 22.2.41 für die dortige Dienststelle hier einsitzende Schutzhaftgefangene Halbjüdin H.  ist am 9.2.42 um 15:10 Uhr an einer Lungenentzündung gestorben. (…) Es wird gebeten die Pflegeeltern Heinrich Pl. (…) vom Ableben der H. zu verständigen und ihnen bekanntzugeben, dass die Leiche auf Staatskosten eingeäschert wird. Eine Besichtigung der Leiche ist aus hygienischen Gründen nicht möglich. Die Urne kann von der Kommandantur des KL Ravensbrück zur Überführung schriftlich angefordert werden.“

Dass die in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen aus hygienischer Ursache nicht mehr von ihren Angehörigen besichtigt werden können, ist ein Standardsatz in den Todesmeldungen der KZ-Kommandanturen an die Hinterbliebenen. Es ist eine Lüge, genau wie die Todesursache gefälscht ist, manchmal auch das Todesdatum. In den Urnen, die manche Angehörige auch wirklich anfordern, findet sich keinesfalls die Asche der Ermordeten. Es ist wahllos zusammengekratzte Asche aus den Krematorien der KZ.

Das einzige, was von Julie H. zurückbleibt, sind die Dinge, die sie mit ins KZ genommen hat. Das KZ schickt sie in einem Paket an die Gestapo Düsseldorf. Henriette Pl. wird vorgeladen, sie hat zu unterschreiben, dass alles, was auf der Effektenliste für die Einlieferung steht, nach dem Tod von Julie H. auch wieder abgegeben wurde.

Schließlich muss alles seine Ordnung haben.

Es handelt sich um: ein Nachthemd, eine weiße Polobluse, eine blau-schwarze Strickjacke, eine lila Strickjacke, ein gestricktes Leibchen, einen Wollschal, einen Seidenschal, zwei Paar Herrensocken, fünf Paar Strümpfe, zwei Paar Handschuhe, ein Paar neue Hausschuhe, eine Zahnbürste, ein Stück Seife, ein Stück Stopfgarn, ein Paar Schuhe, einen Strumpfhalter, vier Hemden, einen Rock, drei Schlüpfer, einen Mantel, zwei Unterröcke, eine Handtasche, einen Büstenhalter und einige Papiere.

Die ehemalige Adoptivmutter Henriette Pl. unterschreibt, die Sachen gesehen zu haben.

Dann wird auch das letzte Hab und Gut von Julie H. zusammengesammelt und vernichtet.

Aus „sanitären Gründen“.

© Anne S. Respondek, Januar 2022

Benutzte Quellen:

Gestapo-Akte der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf für Julie H. (Margot Pl.)

Bad Arolsen Archiv – Internationales Zentrum über NS-Opfer

Signatur 1.1.35.1 / Reference Code 8144405