Alltag im KZ-Bordell

Teil 4 der Artikelserie über KZ-Bordelle & das Dritte Reich als „größten Bordellbetreiber Europas“

(Dieser Text ist im September 2024 in der Graswurzelrevolution erschienen.)

Der NS-Staat überzog das ganze besetzte Europa mit einem Netzwerk von Bordellen. Gedacht waren diese für alle Arten von Männer: Wehrmachtssoldaten, SS-Männer, aber auch Eisenbahner, Polizisten, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Männliche KZ-Häftlinge durften, sofern sie nicht russisch oder jüdisch waren, in den Bordellen der KZ ihre weiblichen Mitgefangenen gegen Geld sexuell missbrauchen. Die SS erhoffte sich davon eine arbeitstechnische Leistungssteigerung der männlichen KZ-Häftlinge. In den letzten vier Artikeln der Serie zu KZ-Bordellen wurden die Prostitutionspolitik des Nationalsozialismus, die Entstehung der KZ-Bordelle („Sonderbauten“ genannt), die soziale Herkunft der Frauen aus den Bordellen und ihre Selektion für diese thematisiert. In diesem Artikel soll es darum gehen, wie ihre Lebenswelten in den Bordellen in den KZ Mauthausen und Gusen, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz, Dachau, Neuengamme, Sachenhausen und Mittelbau-Dora aussahen und wie sich der Alltag in einem Konzentrationslagerbordell gestaltete.

Nach der Selektion der Frauen, die in die KZ-Bordelle verschafft werden sollten, erfolgte zunächst eine Zeit, in der diese „aufgepäppelt“ wurden, um sie für Freier attraktiver zu machen. Danach ging es „auf Transport“. Die ehemalige Zwangsprostituierte B. berichtet über diesen Transport: „Das war kein großer Transport, sondern ein Privattransport mit SS. Wir kamen in ein extra Zugabteil, es war kein Viehwaggon wie sonst. Das Abteil wurde abgeschlossen. Wir kriegten keine Handschellen. Es hieß Sonderkommando (…). Wir haben gedacht, daß wir irgendwo arbeiten müssen. Sonderkommando kann viel sein.“[1]

Einige der Frauen wussten also nicht, wohin sie gebracht würden. Andere berichten von ihrer Angst, in ein Bordell für SS-Männer zu kommen, und von der anfänglichen Erleichterung, statt sadistischer SS-Aufseher „nur“ Häftlinge sexuell bedienen zu müssen. Diese Erleichterung wich allerdings schnell dem Schrecken, den die erzwungenen Sexualkontakte mit sich brachten. Die Zeitzeugin W., die in einem KZ-Bordell prostituiert wurde, erzählt von ihrem ersten Abend: „Die beiden Aufseherinnen haben dann folgendes zu uns gesagt: Wir wären jetzt in einem Häftlingsbordell, wir hätten es gut, wir würden gut zu essen und zu trinken kriegen, und wenn wir uns fügen würden, dann würde uns nichts passieren. Das war es, was man uns gesagt hat. Und da haben wir dagesessen mit unserem Talent. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, denn es war ja keine SS. Ich habe aber auch mit dem Herrgott gezürnt. Ich habe gedacht, lieber heute tot als morgen, trotz aller Versprechungen. Manche hat aufgeatmet, hat sich gesagt, lieber so, als jeden Tag Schläge und schwere Arbeit und nichts zu essen. (…) Als ich wieder gesund war und dann doch ran mußte, wollte ich nicht mehr, ich überlegte dauernd, wie geht es am besten, Schluß zu machen. Ich habe es nicht gemacht, und mußte dann das erste Mal doch einen Häftling nehmen. Bei dem habe ich mich gewehrt, dem habe ich gesagt, ich hätte eine Nagelschere, mit der würde ich ihn stechen. Wenn er mich anfasst, käme er nicht heil wieder raus.“[2]

Der Abrechnungsbogen des KZ-Bordells zeigt jedoch, dass W. noch am selben Abend 6 Häftlingsfreier bedienen musste.[3]

Insgesamt wurden mehr als 190 Frauen in den KZ-Bordellen ausgebeutet. Frauen, die namentlich bekannt sind, setzen sich zusammen aus 70% mit schwarzen Winkeln (also als „Asoziale“ klassifiziert) und 30% mit roten Winkeln – im KZ-System als „Politische“ eingeordnete, oftmals „Bettpolitische“, die also wegen „verbotenen Umgangs“ mit Zwangsarbeitern oder wegen „Rassenschande“ inhaftiert worden waren. Nur vier Frauen, die als „Berufsverbrecherinnen“ mit grünem Winkel in die KZ eingewiesen worden waren, konnten nachgewiesen werden. Jüdische Frauen gab es in den KZ-Bordellen nicht.[4] 114 der in den Häftlingsbordellen prostituierten Frauen waren „Reichsdeutsche“. 46 der Frauen waren Polinnen, 6 Frauen kamen ihrem Namen nach vermutlich aus der Ukraine, aus Weiß- oder Zentralrussland. Eine Frau stammte aus den Niederlanden.[5] Das Durchschnittsalter der Frauen betrug bei Eintritt in das KZ-Bordell 22 Jahre. Der zeitliche Aufenthalt im Bordell variierte stark: manche Frauen waren nur 2 Tage im Bordell, manche 34 Monate – durchschnittlich betrug ihre Zeit im Bordell 10 Monate. Über ein Drittel der Frauen wurde in mehr als einem KZ-Bordell ausgebeutet. Obwohl ihnen versprochen worden war, dass sie nach einem halben Jahr „Dienst“ im KZ-Bordell aus dem KZ entlassen würden, hielt die SS diese Zusage nicht ein. Vor Kriegsende entlassen wurden nur 11 Frauen – aber nur, weil ihre reguläre Haftzeit im KZ beendet war.[6]

Die Verpflegungssituation der Frauen in den KZ-Bordellen war besser als die des durchschnittlichen KZ-Häftlings: teils erhielten die Frauen die doppelten Häftlingsrationen, teils die Verpflegung der SS. Dies hatte zum Ziel, sie für die Freier „ansehnlich“ zu halten. Zugang zum Lagerschwarzmarkt hatten sie wegen ihrer Isolation nicht – und auch in der Häftlingskantine konnten sie nicht einkaufen, denn das, was sie durch den „Bordelldienst“ verdienten, wurde ihnen nicht ausgezahlt. Sie waren angewiesen darauf, dass Häftlingsfreier ihnen „Geschenke“ mitbrachten, wenn sie etwas benötigten. Ihre Kleidung stammte aus ihrem persönlichen Besitz, aus der Lagerkleiderkammer oder war ein Geschenk der männlichen Häftlinge. Eine Kleiderordnung für die als „Sonderbau“ bezeichnete Bordellbaracke gab es nicht. Den Frauen in den KZ-Bordellen war es, anders als den anderen Häftlingen, aus ästhetischen Gründen erlaubt, sich die Haare wachsen zu lassen.

Die Frauen in den KZ-Bordellen waren äußerst isoliert. Sie durften sich außerhalb des Bordells nicht frei im Lager bewegen, zudem war der „Sonderbau“ mit vergitterten Fenstern und teilweise auch einem hohen Sichtschutz versehen. Soziale Kontakte gab es nur untereinander sowie zur SS und zu den männlichen KZ-Häftlingen, die sich als ihre Freier betätigten.

Der Tagesablauf im „Sonderbau“ war streng geregelt, es gab feste Zeiten für Wecken, Essen und Arbeiten. In Buchenwald z.B. sollten sich die Frauen nach Frühstück und Frühsport um ihre Wäsche kümmern (waschen, stopfen, nähen), aber auch Näharbeiten für die Lagerbekleidungskammer durchführen. Die Freier kamen erst abends. Im KZ Mittelbau-Dora hingegen hatten die Frauen 8-Stunden-Schichten (Tag und Nacht) abzuleisten.

Die Zeitzeugin W. beschreibt die Fließbandarbeit des Freierabfertigens wie folgt: „Wir mussten jetzt jeden Abend die Männer über uns rübersteigen lassen, innerhalb von zwei Stunden. Das hieß, die konnten rein, mussten ins Arztzimmer, sich ´ne Spritze abholen, konnten zu der Nummer, also dem Häftling, konnten ihre Sachen da verrichten. Rein, rauf, runter, raus, wieder zurück, kriegten sie nochmals eine Spritze. Der Häftling musste raus. Wir hatten ein Badezimmer mit soundsoviel WCs. Also an Sauberkeit hat es da nicht gefehlt. Und dann kam gleich der nächste wieder. Am laufenden Band. Und die hatten nicht länger wie eine Viertelstunde.“[7]

Die durchschnittliche Anzahl der Freier, die jede Frau pro Tag sexuell bedienen musste, beläuft sich auf ungefähr 9. Allein am 24. Oktober 1944 besuchten z.B. 76 männliche Häftlinge das KZ-Bordell in Dachau, so dass jede Frau zwischen 8 und 10 Freier bedienen musste.[8] Sonntags hatten die männlichen KZ-Häftlinge frei, der Bordellbetrieb stellte an diesem Tag für die Frauen also eine besondere Belastung dar, da überdurchschnittlich viele Männer die KZ-Bordelle aufsuchten.

Die Bordelle waren nicht nur im Lager selbst streng isoliert, sondern die Frauen wurden auch strengstens kontrolliert und überwacht. Die SS regelte sämtliche Vorgänge, wie z.B. das Einschließen im Schlafsaal oder das Zählen der täglichen Bordelleinnahmen. Ab November 1943 erfolgte diese Kontrolle in den KZ-Bordellen jedoch nicht mehr durch die SS-Führer, SS-Wachen und weibliche SS-Aufseherinnen. Sondern der SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Glücks vom SS-Wirtschafts- Verwaltungshauptamt (WVHA) setzte durch, dass ältere Bordellbetreiberinnen, die in den KZ inhaftiert waren, diese Aufseherinnentätigkeiten übernehmen sollten. Von ihnen erhoffte man sich einen reibungsloseren Ablauf des Bordellbetriebs, da diese darin ja erfahren waren. Auch wusste man, dass sie als Milieukundige erprobt darin waren, zusätzlichen Druck auf die Frauen auszuüben, damit diese ihre „Leistung“ brächten.

Ein Bordellbesuch kostete einen männlichen KZ-Häftling zwei Reichsmark. Die SS bekam davon 1,50 Reichsmark, die Aufsicht 5 Pfennig und die restlichen 45 Pfennig sollten an die prostituierte Frau gehen. Später betrug der Preis für einen Bordellbesuch nur noch eine Reichsmark, wobei 10 Pfennig an die Aufseherin („Puffmutter“, „Kassiererin“) und 90 an die prostituierte Frau gehen sollten. Jedoch zahlte die SS die Gelder nicht an die Frauen aus, sondern überwies diese auf ein Sonderkonto. Nach ihrem „Bordelldienst“ sollte das Geld angeblich an die Frauen ausgezahlt werden – dazu kam es aber scheinbar nie. Sämtliche ehemaligen Zwangsprostituierten aus den KZ-Bordellen betonen: „Geld haben wir nie gesehen.“[9]

Alles im Bordellbetrieb war also strengstens geregelt – dies galt auch für den eigentlichen Akt, den Bordellbesuch. Um diesen und um die Bewältigungsstrategien, die die in den KZ-Bordellen zwangsprostituierten Frauen benutzten, um den seriellen sexuellen Missbrauch psychisch zu überleben, soll es im nächsten Artikel dieser Reihe gehen.

(c) Anne S. Respondek


[1] Paul, Christa, Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 45 f. 

[2] Ebd., S. 53f.

[3] Sommer, Robert, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009, S. 210

[4] Ebd., S. 236

[5] Ebd. S. 224 f.

[6] Ebd. S. 225, S. 236

[7] Mieder, Rosemarie / Schwarz, Geslinde: Alles für zwei Mark. Das Häftlingsbordell von buchenwald. MDR Radiosendung 2002. hier zitiert nach Sommer, KZ-Bordell, S. 211 

[8] Sommer, KZ-Bordell, S. 212

[9] Aussage Büttig (Frau X), AGN, Transkription, S. 19, hier zitiert nach Sommer, KZ-Bordell, S. 213 

Die Selektion der Frauen für die KZ-Bordelle

Teil 4 der Artikelserie über KZ-Bordelle & das Dritte Reich als „größten Bordellbetreiber Europas“

Autorin: Anne S. Respondek

(Dieser Text ist im Mai 2024 in der Graswurzelrevolution erschienen.)

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern Mauthausen und Gusen, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz, Dachau, Neuengamme, Sachenhausen und Mittelbau-Dora existierten Bordelle, in denen sich die männlichen KZ-Häftlinge als Freier betätigen konnten. Die SS wandte mehrere Methoden an, um die KZ-Bordelle mit Frauen zu „befüllen“. Unter anderem benutzte sie dazu das System der „freiwilligen Meldung“. Dieses sollte sich vor allem an Frauen wenden, die wegen „sexuell unangepassten Verhaltens“ oder wegen Prostitution ins KZ eingeliefert worden waren. Aber es konnte auch angewendet werden auf Kommandos, in denen hochgradig schlechte Lebensbedingungen herrschten. Im Laufe des Krieges wurde immer häufiger auch während der Appelle selektiert oder bei medizinischen Untersuchungen. Diejenigen, die die Entscheidung trafen, welche Frauen als Prostituierte für die männlichen KZ-Häftlinge in Frage kämen, waren Kommandanten, Lagerärzte, SS-Männer und Offiziere. In den KZ wurde nicht nur für die KZ-internen Bordelle selektiert, sondern auch für Wehrmachts- und SS-Bordelle außerhalb.

Das Prinzip der „freiwilligen Meldung“ fand auch für andere Kommandos als für das als „Sonderkommando“ bezeichnete Bordellkommando statt, vor allem dann, wenn die SS Kräfte für diese Kommandos benötigte. Dafür versprach die SS denjenigen Menschen, die sich für das neue Kommando meldeten, eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, verschwieg aber gleichzeitig auch wichtige Informationen über dieses neue Kommando – dies fand auch bei der „freiwilligen Meldung“ für die Bordelle genau so statt. Die SS erhoffte sich von den „freiwilligen Meldungen“ drei Dinge: erstens, dass sich ehemalige Prostituierte melden würden, die man für den Bordellbetrieb nicht erst „einarbeiten“ müsse, zweitens, durch eine behauptete „freiwillige Meldung“ der Frauen den Häftlingsfreiern das schlechte Gewissen darüber zu nehmen, ihre weiblichen Mithäftlinge im Bordell sexuell auszubeuten und drittens, den Frauen selbst die Schuld für ihr Schicksal zuzuweisen, da sie sich ja „freiwillig“ darauf eingelassen hätten. Vor allem zu Beginn der Rekrutierungen arbeitete die SS häufig mit dem Versprechen, diejenigen Frauen, die sich „freiwillig“ für das Sonderkommando meldeten, würden nach einem halben Jahr „Dienst“ aus dem KZ entlassen.

Allerdings ist keine Frau bekannt, die tatsächlich nach Ablauf der 6 Monate entlassen worden ist. Die wenigen Frauen, die aus den KZ-Bordellen entlassen wurden, kamen entweder deswegen frei, weil ihre Haftzeit verbüßt war – oder sie wurden, nachdem ihre sexuelle „Arbeitskraft“ verbüßt war, zurück in andere KZ-Kommandos verschafft, um dort weiter durch körperliche Arbeit ausgebeutet zu werden. Die SS hatte niemals vorgehabt, das von ihr gegebene Versprechen der Entlassung nach 6 Monaten einzulösen. Das bestätigt auch ein Brief Heinrich Himmlers aus dem November 1942, in dem er schreibt: „Eine Entlassung, die ihnen ´irgendein Wahnsinniger´ versprochen habe, komme bei diesen Frauen erst in Frage, wenn sie kein Verderbnis mehr für die Jugend, die Gesundheit, die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellten.“[1]

Im sogenannten „Hurenblock“, wo Frauen festgehalten wurden, die wegen Prostitution eingeliefert worden waren, existierten besonders harte Lebensbedingungen. Von dort erhoffte sich die SS die meisten „freiwilligen Meldungen“, erstens, weil die Umstände dort so schwer und die Frauen entsprechend verzweifelt waren und zweitens, weil die Frauen ja bereits wüssten, wie man sich als Prostituierte im Bordell zu benehmen habe. Ab 1943 meldeten sich aber trotz ihres dringenden Wunsches zu überleben und trotz ihres Unglücks nicht mehr genug Frauen „freiwillig“ für die KZ-Bordelle, da sie sahen, dass die SS die Frauen eben nicht nach einem halben Jahr entließ, sondern dass Frauen aus den Bordellen in die KZ rücküberstellt wurden. Auch Frauen aus anderen Bordellen, z.B. aus Bordellen für die SS, wurden, wenn sie überlebten, in die KZ zurückverschafft und berichteten dort von den unglaublichsten Zuständen. Da sie derart geistig und körperlich zerstört waren, waren sie zumeist nur noch für die Vernichtung vorgesehen. Eine Häftlingsfrau beschreibt die Rückkehr einer ihrer Kameradinnen aus dem Bordell ins KZ: „Thea. Sechs Wochen später war sie zu uns zurückgeschickt worden mit dem Vermerk Abgenützt. So sieht die Praxis dieser Angelegenheit aus. Nach wenigen Wochen mit dem Vermerk Verbraucht ins Lager zurück zur Vernichtung. Als Zeuginnen dessen, was ihnen in diesen Wochen widerfuhr, dürfen sie nicht am Leben bleiben. Thea verstört bis zum Rand des Irrsinns, hatte ihrer Lagerfreundin berichtet, bevor man sie im Wagen mit anderen Verbrauchten vergaste. Natürlich sprachen sich ihre Schilderungen, wie alles, was uns angeht, in allen Einzelheiten in Windeseile herum(…).“[2]

Frauen in den SS-Bordellen waren schwererer Gewalt ausgesetzt als Frauen, die in den Bordellen für männliche KZ-Häftlinge anschaffen mussten. Diese blieben zudem länger in den „Sonderbauten“ genannten Bordellen. Ihre Berichte hörten die Frauen aus den KZ also nicht, aber was die wenigen Frauen erzählten, die ein SS-Bordell überlebten, wird viele Frauen abgeschreckt haben, sich in ein KZ-Bordell zu melden, um so ihre Überlebenschancen zu erhöhen.

Deswegen ging die SS dazu über, in den Strafblocks zu rekrutieren. Die Strafblocks waren eines der schlechtesten Kommandos, die es gab. Vor allem Frauen mit grünem (Haftgrund: „kriminell“) und schwarzem (Haftgrund: „asozial“) Winkel waren dort interniert, also Prostituierte, Obdachlose, Sinti und Roma, Frauen, die Straftaten begangen hatten. Im Strafblock herrschten besonders viel Hunger, Geschrei, Elend und Gewalt. Eine Frau aus dem Strafblock berichtet darüber, wie sie von dort für das Bordellkommando selektiert worden ist: „Im Sommer 1943 hieß es eines Tages im Strafblock: Nummer sowieso, Nummer sowieso, nicht zum Arbeitsappell antreten, drinbleiben! Etwas später mußten wir doch raus, mußten uns anstellen. Da waren Kommandant Kögel, oder war das Meier?, Oberaufseherin Langefeld und fremde SS-Leute, ein fremder Kommandant mit seinem Anhang. Die schritten unsere Horde ab und guckten und suchten die und die und die. Die anderen mußten wieder zurück auf den Strafblock. Wir mußten anschließend gleich ins Revier. In einem Raum mußten wir uns alle ausziehen, nackend. Dann kam diese SS-Horde rein, da war auch Schiedlausky, der Lagerarzt, dabei. Da haben sie uns gemustert. (…) Dann kamen wir in den Zellenbau, alle in eine Zelle. Was machen die mit uns? Ich hatte von einem Kapo aus dem Revier gehört, daß es Bordelle gab, für die jugoslawische SS in Berlin. Und wenn diese Frauenhäftlinge ausgeleiert waren, so möchte ich jetzt mal sagen, hat man sie erschossen, und dann kam ein neuer Transport. Ich wusste das. (…) Aber ich wusste nun nicht, wo wir in diesem Loch mit den 16 Frauen saßen, daß wir auch ins Bordell sollten.“[3]

Frauen wurden also ausgesucht, aber nicht über ihr weiteres Schicksal informiert. Eine weitere Zwangsprostituierte berichtet: „Wir mußten dann zum Lagerkommandeur und mußten uns alle nackt ausziehen. Da wurden wir begutachtet wie bei einer Fleischbeschauung. Dann hieß es ´Ja, ja weg.´ Wir waren ungefähr acht Frauen (…), die ausgesucht wurden.“[4]

Bei diesen Selektionen kam es auch zu verbalen Demütigungen durch diejenigen, die selektierten: „Nebenbei wurden die ausgesuchten Frauen mit zynischen Bemerkungen bombardiert, von Lagerführer, Kommandant und Arzt beschimpft und von den diensthabenden Aufseherinnen in den unflätigsten Ausdrücken glossiert.“[5]

Als im Spätsommer 1944 das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück komplett überfüllt war, stellte die SS ein Zelt auf, in dem über 3.000 Frauen unter erbärmlichsten Bedingungen untergebracht waren. Auch dort selektierte die SS für die KZ-Bordelle. Überhaupt ging gegen Ende des Krieges die SS dazu über, bei allen möglichen Gelegenheiten Frauen für die KZ-Bordelle auszusuchen: bei Appellen, beim Antreten vor dem Block, bei medizinischen Untersuchungen. Eine Häftlingsfrau berichtet über eine Selektion, bei der im KZ Frauen für ein Wehrmachtsbordell ausgesucht wurden: „Dann kamen die Generäle. Sie sind 5 Mal auf und ab gegangen und haben Frauen für das Bordell ausgesucht. Die haben gesagt, Du raustreten.“[6]

Sogar im Krankenbau suchte die SS nach Frauen, die sie benutzen konnten, um sie den männlichen Häftlingen sexuell zur Verfügung zu stellen. Dort wurden Frauen gebadet, hochgepäppelt und für ihren „Dienst“ im Bordell vorbereitet. Während dieser Musterungen stellte man den Frauen auch Fragen nach ihrer „Eignung“. Eine Häftlingsfrau berichtet, nach der Päppelung der Frauen „sind einige SS-Männer gekommen und haben sie im Operationssaal ausprobiert“, sprich, vergewaltigt.[7] Vor allem das Frauen-KZ Ravensbrück entwickelte sich mit der Zeit zum „Umschlagplatz“ für Frauen, die in die KZ-, Wehrmachts- und SS-Bordelle verschafft wurden. Für das Bordell in Auschwitz-Monowitz rekrutierte man eigens in Auschwitz-Birkenau, auch beim Eintreffen von Transporten.

Darum, wie der Bordellbetrieb konkret ablief und wie der Alltag der Frauen in den KZ-Bordellen aussah, soll es im nächsten Text gehen.

(c) Anne S. Respondek


[1] Arndt, Ino, Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in: Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 21, Stuttgart 1970, hier zitiert nach Paul, Christa, Zwangsprostitution. Staatlich errichtete Bordelle im Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 39 

[2] Lundholm, Anja, Das Höllentor. Bericht einer Überlebenden. Reinbek 1988, S. 125, hier zitiert nach  Sommer, Robert, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009, S. S. 74 

[3] So die Aussage von W. in Paul, Zwangsprostitution, S. 49 f. 

[4] So B. in Paul, Zwangsprostitution, S. 45 

[5] Buchmann, Erika, Frauen im Konzentrationslager, Stuttgart 1946, S. 86, hier zitiert nach Sommer, Sonderbau, S. 76 

[6] Aussage von Henryka O., hier zitiert nach Sommer, Sonderbau, S. 78

[7] So Antonia Bruha in Berger, Karin und Holzinger Elisabeth, „Ich geb Dir einen Mantel, dass Du ihn noch in Freiheit trage kannst.“ Widerstehen im KZ. Österreichische Frauen erzählen, Wien 1987, S. 149, hier zitiert nach Sommer, Sonderbau, S. 80 

„Asoziale“ Frauen als Zwangsprostituierte für das Dritte Reich

Teil 3 der Artikelserie über KZ-Bordelle & das Dritte Reich als „größten Bordellbetreiber Europas“

Autorin: Anne S. Respondek

(Dieser Artikel ist im April 2024 in der Graswurzelrevolution erschienen.)

In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern wurden ab 1942 Bordelle gebaut, in denen männliche KZ-Häftlinge sich als Freier betätigen konnten. Diese KZ-Bordelle existierten in Mauthausen und Gusen, Flossenbürg, Buchenwald, Auschwitz, Dachau, Neuengamme, Sachenhausen und Mittelbau-Dora. Die Frauen, die in diesen KZ-Bordellen anschaffen mussten, hatten fast alle eines gemeinsam: den schwarzen Winkel, der auf den Haftgrund der „Asozialität“ hinwies.

Aber wer oder was galt im Nationalsozialismus als „asozial“?

Dieser schwammige Begriff war auch im Dritten Reich keineswegs fest definiert. Der Rassenhygieniker Fred Dubitscher schrieb dazu in seiner „erb- und sozialbiologischen Untersuchung“: „(…) die Beschäftigung mit den Fragen der Asozialität verlangt in gleicher Weise kriminalbiologisches, sozialbiologisches, wirtschaftspolitisches, ärztlich-psychatrisches und erbbiologisches Denken und Urteilen. (…) Der Begriff ´asozial´ kennzeichnet ja doch eine seelisch-soziale Haltung in und zu der Gemeinschaft, die sich von der durchschnittlichen Haltung als abwegig im unerwünschten Sinn unterscheidet. (…) Die soziale Wertbeurteilung (also auch ´asozial´) ist ja doch primär ausschließlich Sache des Volksempfindens.“[1] Allgemein, so führte er aus, würden zur Gruppe der „Asozialen“ folgende Personen zählen: „Kriminelle, Verwahrloste, Arbeitsscheue, Bettler, Prostituierte, Rauschmittelsüchtige, Trunksüchtige, Fürsorgezöglinge, Vagabunden u. a.“[2] All diesen Menschen sei eines gemeinsam: „es handelt sich um Verhaltensweisen in Form von Handlungen oder Unterlassungen, die von der sozialen Norm abweichen und die dadurch Leiden oder Schäden verursachen.“[3]

Unterschieden wurde zwischen Menschen, die als „verwahrlost“ galten, und deren „asoziales“ Verhalten man ungünstigen äußeren Umständen zuschrieb und Menschen, deren unerwünschtes Verhalten man als ererbt auffasste. „Asoziale“ galten als Gefahr für das deutsche Volk, für den „gesunden Volkskörper“, und zwar auf biologischer, sozialer und finanzieller Ebene. In biologischer Hinsicht wurde ihnen unterstellt, sie würden ihre „Asozialität“ weitervererben und zudem durch „frühe Geschlechtsreife“ und „Triebhaftigkeit“ sehr viele (ebenfalls „asoziale“) Kinder bekommen. So würden sie das Erbgut des deutschen Volkes schädigen und „herabziehen“. Ihnen wurde vorgeworfen, durch ihr „gemeinschaftsfremdes“ Verhalten das Volk in sozialer Hinsicht zu schädigen und zudem enorme Kosten zu verursachen, z.B. durch Heim- und Gefängnisaufenthalte oder indem sie der Fürsorge zur Last fielen. „Asoziale“ sollten über Erziehungs- und Bestrafungsmaßnahmen weggesperrt und mithilfe dieser „unschädlich“ gemacht werden – aber das reichte dem NS-Staat nicht. Denn im Dritten Reich galten nicht nur körperliche und seelische Beeinträchtigungen und Krankheiten als unerwünscht. Der Begriff des „moralischen Schwachsinns“ sollte alle Personengruppen umfassen, die sich kriminell, „gemeinschaftsfremd“, sexuell „triebhaft“ oder unangepasst verhielten – und da „Asozialität“ als erblich galt, und damit auch der „moralische Schwachsinn“, wurden viele dieser so kategorisierten Personen gegen ihren Willen unfruchtbar gemacht.

„Asozial“ zu sein wurde somit verbiologisiert. Es wurde nicht verstanden als Ausdruck einer finanziellen und sozialen Armut, sondern als Charakter- und Erbgutdefizit. „Asozial“ war immer auch eine Fremdzuschreibung. Niemand aus der – sehr homogenen – Gruppe der als „asozial“ klassifizierten Personen bezeichnete sich selbst so.

Der Kampf gegen „Asozialität“ war immer auch ein Kampf gegen arme und prekär lebende Menschen. Die Breite der gegen sie getroffenen Maßnahmen war beachtlich. In der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ wurden 1938 über 10.000 Männer, denen „Arbeitsscheu“ vorgeworfen wurde, in KZ eingeliefert. Damit änderte sich in den KZ die Zusammensetzung der Häftlingsgruppe, „Asoziale“ stellten ab sofort die größte Häftlingskategorie. Die Verhaftung der „Arbeitsscheuen“ war vielfach von den Sozial- und Fürsorgebehörden veranlasst worden.

Die gegen „Asoziale“ getroffenen Maßnahmen waren vielfältig und zeugten von enormer Härte: Bettlerrazzien, Unterbringungen in Arbeitshäusern, Entmündigungen von Personen durch Fürsorgeämter, Unterbringungen in geschlossenen Anstalten, Einweisung in spezielle, KZ-ähnliche Lager für Fürsorgeempfänger, außerdem Schutzhaft, Sicherungsverwahrung und Vorbeugehaft, also die Inhaftnahme von Personen, bevor diese überhaupt (erneut) strafrechtlich relevant in Erscheinung traten. Konkret zur Auslöschung der unerwünschten Personengruppe sollten die Zwangssterilisierungen und die Tötungen in den KZ beitragen – denn eine Besserung, Erziehung oder Versorgung von „Asozialen“ war nie das Ziel des Nationalsozialismus gewesen. Die subproletarische Klasse, die unerwünschte prekäre Schicht, sollte komplett ausgelöscht werden.

Im Laufe des Krieges fand ein bemerkenswerter Wandel in der „Asozialen“politik statt.

Hatten zunächst männliche Bettler, „Landstreicher“, Alkoholiker und „Arbeitsverweigerer“ im Fokus gestanden, konzentrierte sich die Verfolgung im Laufe des Dritten Reiches mehr und mehr auf „asoziale Sippen“ und auf sexuell freizügige Frauen – es fand sozusagen eine Feminisierung und Sexualisierung der „Asozialen“politik statt. Denn wer oder was genau „asozial“ war – das hatte keinen Endpunkt. Der Gummibegriff ließ sich endlos dehnen, immer neu deuten und erfasste somit ständig neue Betroffenengruppen. Frauen, die sich in den Augen der Behörden „herumtrieben“, die „sexuell hemmungslos“ waren oder „sittlich tiefstehend“, wurden nun ebenfalls erfasst und durch Polizei, Gesundheitsamt und Fürsorge verfolgt. Bereits die Unterstellung sexueller Unangepasstheit reichte aus, um in den Fokus der Ämter zu geraten. Jede sexuelle Freizügigkeit, so unterstellte man den Frauen, würde unweigerlich zu einem bestimmten Zeitpunkt dazu führen, dass die Frau sich prostituiere. Prostituierte waren sowieso als „Asoziale“ kategorisiert – aber nun reichte es bereits aus, unbezahlt sexuelle Kontakte zu haben. Wer in Verdacht stand, sich heimlich zu prostituieren, oder wer wechselnde Männerbekanntschaften pflegte, wer in bestimmten Lokalen schlechten Rufs allein oder mit fremden Männern verkehrte, wer ein ungeregeltes Einkommen hatte, der konnte von den Behörden als „hwG“ gelistet werden – als Person mit „häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“. Dies galt als eine Art Vorstufe zur Prostitution und rechtfertigte bereits Maßnahmen wie Vorbeugehaft.

Die meisten der Frauen, die in den KZ-Bordellen gezwungen wurden, sich von männlichen KZ-Häftlingen sexuell missbrauchen zu lassen, waren wegen „Asozialität“ in die KZ eingeliefert worden. Ein Großteil der Frauen aus den KZ-Bordellen war also wegen ihrer Armut und ihres (vermeintlichen) Sexualverhaltens verfolgt und im KZ inhaftiert worden.

In der Häftlingsgemeinschaft standen diese „asozialen“ Frauen ganz weit unten.

Im KZ trafen verschiedene Nationalitäten, soziale Klassen und kulturelle Hintergründe aufeinander. Geschickt verstand es die NS-Führung, in den KZ verschiedene Personengruppen gegeneinander auszuspielen und so eine Solidarisierung untereinander sowie das Entstehen einer sich als „Häftlingsgemeinschaft“ verstehenden Gruppe zu verhindern. Dies gelang u.a. durch die rassistische Hierarchisierung (deutsche Häftlinge standen ganz oben in der Häftlingsordnung, ganz unten standen Juden, Sinti, Roma und Angehörige der Sowjetunion). Die Übertragung von Verwaltungsaufgaben an bestimmte Häftlinge im Austausch für Vorteile trug zur Spaltung der Häftlingsgruppen ebenso bei wie das Winkelsystem. Vor allem Grünwinklige („Kriminelle“) wurden von den anderen Häftlingen verachtet, aber auch Menschen mit schwarzen Winkeln, „Asoziale“ galten als Bodensatz der KZ-Inhaftierten. Die betroffenen Frauen waren damit doppelt stigmatisiert, als Frau und als „Gemeinschaftsfremde“ – und diese Diskriminierung ging eben nicht nur von der SS, sondern auch von den Mithäftlingen aus, denn auch in deren Sozialordnung teilte man Inhaftierte in „wertvolle“ und „minderwertige“ Mithäftlinge ein. Vor allem den schwarzwinkligen Frauen wurde vorgeworfen, ihre Inhaftierung durch ihre „moralischen Verfehlungen“ ja selbst verschuldet zu haben. Ihre Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe wurde also im KZ fortgeführt – und auch nach dem Ende des Nationalsozialismus distanzierten sich Gemeinschaften ehemaliger Häftlinge oft genug von den „asozialen“ ehemaligen Mithäftlingen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen: die Frauen, die in den KZ-Bordellen zum anschaffen gezwungen wurden, waren Frauen, die wegen ihrer Armut und wegen (unterstellter) sexueller Unangepasstheit und Prostitution verfolgt und in KZ inhaftiert worden waren – und auch dort standen sie in der Sozialordnung ganz unten, wurden von SS und Mithäftlingen ausgegrenzt, stigmatisiert und diskriminiert.

Wie gelangten diese Frauen nun aber aus den KZ in die damals als „Sonderbauten“ bezeichneten KZ-Bordelle? Darum soll es in der nächste Folge dieser Reihe gehen.

(c) Anne S. Respondek


[1] Dubitscher, Fred, Erb- und sozialbiologische Untersuchungen, Leipzig 1942, S. 1 

[2] Ebd. S. 2

[3] Ebd.

Nationalsozialistische Prostitutionspolitik

Teil 1 der Artikelreihe über KZ-Bordelle und das Dritte Reich als „größten Bordellbetreiber Europas“

Autorin: Anne S. Respondek

(Dieser Artikel ist im Februar 2024 in der Graswurzelrevolution erschienen.)

Denken wir an das Frauenbild des Nationalsozialismus, steigen zumeist innere Bilder von Müttern in uns auf: das Mutterkreuz fällt uns ein, sowie stilisierte Graphiken blonder, in Trachten gewandeter junger Mütter mit Kinderscharen, die an ihren Rockzipfeln hängen. Und es ist wahr: als „Hüterin des deutschen Blutes“ kam der deutschen Frau während des Dritten Reichs eine Sonderrolle zu. Frauen hatten Mütter zu sein, Dienerinnen der „Rasse“ und des Volkes. Aber dies ist nur die eine Seite der Medaille. Denn wie in allen zutiefst patriarchalen Systemen war auch im Dritten Reich das Frauenbild ein aufgespaltenes: Frauen wurden aufgeteilt in die „Heilige“ (die Mutter) und die „Hure“. Von letzteren soll diese Textserie handeln: von Frauen, die vom NS-Staat zur Prostitution gezwungen wurden – zum Beispiel in den Bordellen der Konzentrationslager. Diese Bordelle in den Konzentrationslagern waren nicht, wie oft geglaubt wird, Bordelle für deutsche Soldaten. Sondern sie waren gedacht für männliche Häftlinge der Konzentrationslager. Diese sollten sich, obwohl gefangen, ausgebeutet, gequält, dennoch als Freier betätigen können – an ihren weiblichen Mithäftlingen, die in den KZ-Bordellen sexuell von ihnen missbraucht wurden. Diese Serie soll von ihnen handeln – und berichten von den Motiven des NS-Staats, derartige Bordelle einzurichten. Soll berichten davon, welche Frauen in diese Bordelle erpresst wurden und wie. Davon, wie es ihnen ging, wie es ihnen gelang, das Martyrium zu überleben. Davon, wie ein Bordellbesuch aussah, soll die Rede sein, aber es soll auch gefragt werden, wer die Freier waren, wie sie über die Frauen sprachen, ob sie ein Unrechtsbewusstsein hatten. Und Thema soll auch sein, wie es den betroffenen Frauen nach 1945 erging.

Dieses ist der erste Teil der Serie über KZ-Bordelle, der die Sexual- und Prostitutionspolitik des Nationalsozialismus vorstellen soll.

Frauen im Dritten Reich hatten zwar Aufstiegschancen in den NS-eigenen Organisationen (Winterhilfswerk, NS-Frauenschaft, BDM), waren hinsichtlich der Berufstätigkeit jedoch stark eingeschränkt und sollten aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt werden. Ausnahmen waren als „weiblich“ begriffene, dienende, erziehende, pflegende Berufe wie Krankenschwester, Erzieherin, Kindergärtnerin. Der NS-Staat installierte geburtenorientierte Förderungsmaßnahmen wie z.B. die Entstigmatisierung unehelich geborener Kinder, die Förderung von Frühehen, die Einführung des Kindergeldes und zinsfreier Ehestandsdarlehen (die „abgekindert“ werden konnten, d.h., mit jedem in der Ehe geborenen Kind reduzierte sich die Rückzahlungsumme). Sämtliche dieser Maßnahmen waren gekoppelt an eine rassistische sowie eugenische und erbgesundheitliche Komponente – schließlich sollten nur diejenigen Kinder bekommen, die als erbgesund und „rassisch geeignet“ galten. Eine „Entartung“ des „deutschen Blutes“ galt bei aller Sorge um einen Geburtenrückgang als unerwünscht. Deswegen wurden zeitgleich restriktive Maßnahmen im Sinne negativer Eugenik („Ausmerze“) erlassen: das Verbot von Abtreibungen galt nur für „Arierinnen“ – bei „rassisch unerwünschten“ Personen, bei „Art- und Gemeinschaftsfremden“, bei „Asozialen“ und „Minderwertigen“ wurden sie, genau wie Sterilisierungen, teils sogar zwangsweise vorgenommen. Im Sinne der „Höherzüchtung“ der „deutschen Rasse“, der „Aufnordung“, wurde ein Verbot von „Rassenschande“ erlassen, das „Mischlingskinder“ verhindern sollte. Der Geschlechtsverkehr hatte dem Volkswohl zu dienen, er war keine Privatangelegenheit.

Konsequenterweise erfolgte also ein bis dahin nicht gekannter Zugriff des Staates auf die Körper von Männern und Frauen im Dritten Reich. Dass Frauen der Zugriff auf ihren Körper und auf ihre sexuelle Selbstbestimmung verwehrt wird, ist in patriarchalen Systemen üblich. Im Dritten Reich vermischte sich diese sexistische Komponente mit rassistischen und klassistischen Elementen. Deutlich wurde dies auch an der Prostitutionspolitik des Dritten Reichs. Der „artreinen“, entsexualisiert dargestellten deutschen Mutter wurde das Bild der „liederlichen, triebhaften, unsteten asozialen Frau“ gegenübergestellt. Deren Lebensweise war ebenso unerwünscht wie eventuell entstehende Kinder ihrerseits.

Der NS-Staat verfolgte ergo eine restriktive Prostitutionspolitik. Schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler Prostitution als „Schmach der Menschheit“[1] bezeichnet, für den „Sittenverfall“ und sämtliche Geschlechtskrankheiten verantwortlich gemacht und betont, vor allem dem Mann müsse frühzeitig, z.B. durch Heirat, die Möglichkeit gegeben werden, sich sexuell zu betätigen – „denn die Frau ist ja ohnehin nur der passive Teil.“[2]

Die restriktive Prostitutionspolitik im Nationalsozialismus umfasste mehrere Maßnahmen. Tausende Frauen wurden wegen „belästigenden öffentlichen Strichens“ festgenommen, weil der Staat die Allgemeinheit durch ihr Verhalten belästigt sah. Frauen mussten sich bei der Polizei registrieren. Sie hatten wöchentliche Zwangsuntersuchungen über sich ergehen zu lassen, sie unterlagen gesonderten Meldepflichten. Der Vorwurf, Prostituierte zu sein, konnte fast jede Frau treffen. Auch Frauen, denen „hwG“ („häufig wechselnder Geschlechtsverkehr“) nachgesagt wurde, konnten von der Polizei als Prostituierte zwangsregistriert werden. Frauen, die sich ohne männliche Begleitung in bestimmten Lokalen aufhielten, galten ebenfalls als prostitutionsverdächtig, genauso wie Kellnerinnen, Bardamen usw.

Ziel war dennoch niemals die Abschaffung der Prostitution. Der NS-Staat verfolgte Prostituierte, gängelte sie, kontrollierte sie, entmündigte sie, verschaffte sie teils in Konzentrationslager und brachte viele von ihnen um. Aber er tat dies nicht, zu keinem Zeitpunkt, mit dem Ziel, Prostitution abzuschaffen – sondern die Motivation dahinter war, Prostitution zu kontrollieren. Sie sollte gänzlich durch den Staat gelenkt werden – und diesem nützlich sein. Nur Prostitution, die dem Staat nicht dienlich war, weil er keinen Zugriff auf sie hatte – die damals sogenannte „freie“, die „geheime“ Prostitution, die nicht behördlich bekannt war – sollte verhindert werden. An der Prostitution an sich hatte das Dritte Reich nämlich ein erhebliches Interesse. Bis zum Kriegsende 1945 entwickelte sich der NS-Staat zum „größten Bordellbetreiber Europas“[3]und gründete und unterhielt nicht nur im Reich selbst, sondern in nahezu allen besetzten Ländern ein umfangreiches Netzwerk von Bordellbetrieben.

Im Reich selbst geschah dies mit polizeilichen Mitteln. Staatliche Stellen lenkten die sogenannte „Kasernierung“ der Prostitution, d.h., die zwangsweise Konzentrierung von prostituierten Frauen an Orte, die für Freier, aber nicht für die sonstige Zivilbevölkerung zugänglich sein sollten. Es erfolgte im Reich eine schrittweise Verschaffung von Frauen aus der Prostitution an von der Polizei genehmigte Orte: Bordelle, Bordellhäuser, Bordellstraßen, Bordellstraßenzüge, Bordellviertel. Frauen, denen Prostitution nachgesagt wurde, mussten an diesen Orten wohnen und anschaffen – woanders hinzuziehen, war ihnen nicht mehr erlaubt. Frauen, die sich gegen die Kasernierung wehrten, drohte die Internierung. Ebenso wie bei Versäumen der Zwangsuntersuchungen oder bei Verstößen gegen die Meldeauflagen drohte man ihnen mit einer Verschaffung ins KZ. Frauen, die sich prostituierten, galten als „Asoziale“ und standen deswegen eh schon permanent mit einem Bein im Konzentrationslager. Aber nicht nur dies drohte ihnen: Deutsche Frauen, französische Frauen, polnische Frauen, Frauen aller besetzten Länder, denen Prostitution vorgeworfen wurde, waren immer gefährdet, zwangsweise in ein staatseigenes NS-Bordell verschleppt oder zwangseingewiesen zu werden.

Es gab im NS-Staat und das bedeutet, auch in allen von ihm besetzten Ländern, staatlich errichtete, genehmigte und kontrollierte Bordelle für alle nur denkbaren Männergruppierungen. Es existierten Bordelle für die männlichen Häftlinge der Konzentrationslager, Bordelle für ausländische Zwangsarbeiter, Bordelle für die deutsche Wehrmacht (stramm geordnet nach Truppenteilen, aber auch nach Rang: ein Mannschaftssoldat hatte ein Offiziersbordell nicht zu betreten und andersherum), für die SS, die Waffen-SS, für die ukrainischen Wachmannschaften der Konzentrationslager, für die Polizei, für Eisenbahner, Männer der Bau-Organisation Thodt usw.

Die Bordelle für die Wehrmacht zeigen deutlich, wie Prostituierte dazu benutzt wurden, den „männlichen Trieb“ zu lenken, um damit imperialistische und machtpolitische Ziele durchzusetzen. Denn diese Einrichtungen waren geschaffen worden, um zu verhindern, dass deutsche Soldaten kampfunfähig wurden, indem sie sich bei der einheimischen Bevölkerung des besetzten Landes eine Geschlechtskrankheit zuzogen. (Dass es die deutschen Soldaten waren, die den weiblichen Teil der besetzten Bevölkerung mit Geschlechtskrankheiten ansteckte, u.a. durch Massenvergewaltigungen, kam den Wehrmachtsärzten nicht in den Sinn.) Daher sollten den Soldaten gesundheitlich kontrollierte Frauen staatlich bereitgestellt werden – und die Verschaffung in die Wehrmachtsbordelle erfolgte vor allem in den besetzten osteuropäischen Gebieten massenhaft durch Zwang, Druck, Gewalt und Verschleppung. Und auch das war Teil der Kriegführung: Frauenkörper wurden benutzt, um eine einheimische Bevölkerung zu zerstören. Der weibliche Körper repräsentierte den „Volkskörper“ der besetzten Bevölkerung –  ihn zu vergewaltigen, zu „beschmutzen“, kam in der Symbolsprache im nonverbalen Austausch zwischen besetzenden Männern und besetzten Männern einer Vergewaltigung und „Besudelung“ des überfallenen Landes gleich und sollte zudem alle Männer dieses Landes zutiefst kränken, da die „Ehre“ ihrer Frauen zerstört und deutlich gemacht worden war, dass sie nicht geschafft hatten, ihre Frauen zu beschützen.

Aber auch in den Konzentrationslagern gab es Bordelle, in die Frauen gezwungen wurden. Es gab Bordelle für die ukrainischen Wachmannschaften der KZ (die „Trawniki“), in denen zumeist polnische Frauen waren. Auch für die deutschen Bewacher der Lager, die „Totenkopfverbände“, existierten eigene Bordelle. Und es gab Bordelle für die männlichen Häftlinge der Konzentrationslager. Um für Außenstehende zu verschleiern, was in diesen Bordellbaracken im Lagergelände wirklich geschah, bekamen sie von den Nationalsozialisten einen die Wahrheit verhüllenden Namen: sie galten seit ihrer Errichtung nur als „die Sonderbauten“, und sie existierten in Mauthausen, Gusen, Flossenbürg, Buchenwald, Dachau, Neuengamme, Sachsenhausen, Mittelbau-Dora und in Auschwitz.

(c) Anne S. Respondek


Quelle Foto: KZ Mauthausen, Lagerbordell – Foto: Bundesarchiv, Bild 192-349 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons

[1] Hitler, Adolf, Mein Kampf, München 1940, S. 275 

[2] Hitler, Adolf, Mein Kampf, München 1940, S. 275 

[3] Das Zitat stammt aus: Sigmund, Anna Maria, „Das Geschlechtsleben bestimmen wir“. Sexualität im Dritten Reich, München 2008, S. 9 

Elfriede M.

Wie ein Missbrauchsopfer im Nationalsozialismus zur Täterin gemacht wurde – Prostitutionspolitik im Nationalsozialismus

(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

Ich bin Historikerin. Mein Forschungsschwerpunkt ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Kriegssituationen. Konkret forsche ich zum Thema der Bordelle für Wehrmacht und SS. Das bedeutet häufig, emotional belastendes Quellenmaterial zu sichten. Briefe kleiner Mädchen zu lesen, die über Gewalt gegen jüdische Frauen im Vorfeld des Massakers der Wehrmacht an 33.000 Jüdinnen und Juden im ukrainischen Babi Yar schreiben zum Beispiel. Oder psychiatrische Gutachten über Frauen, die 20 Jahre, nachdem sie den Horror der Wehrmachtsbordelle überlebt haben, noch zusammenbrechen, wenn sie darüber reden sollen und die sagen, sie wünschten, man hätte sie damals gleich umgebracht. Oder Bücher zu schreiben über polnische Verkäuferinnen, die zwangsweise in Wehrmachtsbordelle verbracht worden sind und letztlich nach Auschwitz kamen, weil sie sich gewehrt haben. All das aufzuarbeiten ist wichtig. Aber es ist auch emotional schwer wegzupacken.

Als ich an einem Tag im Herbst ins Archiv gehe, erwarte ich keinen so schwerwiegenden Fund. Ich recherchiere zu einem Nebenthema, denn ich suche noch Material, welches aufzeigt, dass die Strategie, welche die Nationalsozialisten in Sachen Prostitution verfolgten, eine zwiegespaltene war: während sie einerseits Prostituierte kriminalisierten, sie gar als „Asoziale“ ins KZ steckten, waren andererseits sie es, die die Bordelle überhaupt erst wieder eröffneten, ja, die ganze Bordellstraßen bauten, in denen sie prostituierte Frauen kasernierten. In den besetzten Gebieten taten sie dies ebenso: Prostitution wurde hart verfolgt – und zugleich wurden Bordelle für Wehrmacht und SS errichtet. Dies führte zu der absurden Situation, dass auch Frauen, die „draußen“ als Prostituierte verfolgt und deswegen verhaftet worden waren, später im Wehrmachtsbordell genau zu dem gezwungen wurden, weswegen man sie einst verhaftet hatte: Prostitution. Denn der sexuelle Kontakt zu Soldaten sollte vor allem in den besetzten Gebieten nur noch im überwachten Wehrmachtsbordell stattfinden. Dies sollte dem Schutz vor Geschlechtskrankheiten dienen, aber auch verhindern, dass deutsche Soldaten die Frauen anderer Länder als Menschen wie sie wahrnahmen, als Subjekte überhaupt.

An diesem Tag suche ich Fallbeispiele dafür, dass auch an der Heimatfront Frauen, von denen es hieß, sie hätten sexuelle Kontakte mit deutschen Soldaten, verfolgt wurden – denn die Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten war für die Wehrmacht Chefsache. Ein geschlechtskranker Soldat kann nicht kämpfen – und wenn alles schiefläuft, kann er auch keinen Nachwuchs mehr zeugen. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern. Mir werden also im Archiv einige Fallakten deutscher Frauen vorgelegt, die Ärger mit den Behörden bekamen, weil sie deutsche Soldaten mit Geschlechtskrankheiten angesteckt haben sollen. Es sind ungefähr 50 Kripoakten. Normalerweise schaffe ich es, 50 Akten an einem einzigen Tag durchzulesen. An diesem Tag aber schaffe ich nur eine, nämlich die, die mir gleich als erstes vorgelegt wird. Es ist die von Elfriede.

Elfriede wird 1941 verhaftet, weil ihr vorgeworfen wird, dass sie den Schützen Paul Sch. mit Tripper angesteckt hat. So weit nichts Außergewöhnliches – aber bereits auf den ersten Seiten der Akte, die die Kriminalpolizei Leipzig über Elfriede angelegt hat, macht mich etwas stutzig. Denn Elfriede, die im Dezember 1920 in Leipzig geboren wurde und fünf Geschwister hat, wird bereits mit 15 das erste Mal von der Kriminalpolizei aufgegriffen. Sie ist von zu Hause weggelaufen, zum 21. Mal. Sie schläft draußen, und sie friert erbärmlich. Weil sie mehrfach Kleidung wie z.B. Mäntel aus Schulen stiehlt, bekommt sie mit der Polizei zu tun. Der Vater, auf die Wache bestellt, um die Tochter heimzuholen, gibt an, sie sei seit der ersten Periode „verstimmt“, wisse bisweilen nicht mehr, was sie tue, und laufe dann von zu Hause fort. Zurück komme sie dann stets in einem halbverhungerten Zustand. Elfriede kommt in eine Nervenklinik, aus der sie aber flieht. Erneut schläft sie in leerstehenden Häusern nahe ihres Elternhauses, stiehlt Kleidung, weil ihr so kalt ist. Zu essen hat sie nichts. Die Kripo führt sie erneut der Nervenklinik zu, in der man zu dem Schluss kommt, dass es eigentlich kaum möglich sei, dass Elfriede nicht wisse, was sie tue. Auch die Kripo vermerkt, Elfriede mache einen normalen Eindruck, allerdings wirke sie manchmal plötzlich verstört und wisse dann keine Antwort mehr.

Bis 1938 wird Elfriede immer und immer wieder aufgegriffen, es ist stets dasselbe Muster: sie läuft von zu Hause fort, stiehlt, was sie braucht, um sich in der Nachtkälte zu wärmen. Sie berichtet der Kripo, sie wisse nicht, warum sie von zu Hause entweiche, es überkomme sie wie ein Drang, aber sie verspüre an diesen Tagen immer ein Angstgefühl ihren Eltern gegenüber, und sie empfinde als schrecklich, dass sie und ihre Geschwister nicht auf der Straße spielen dürften, sondern sich, da die Mutter viel arbeite, nachmittags allein mit ihrem Vater in der Wohnung aufhalten müssen. Das halte sie nicht aus. Der Drang, fortzulaufen und zu stehlen, überkomme sie aber nur, wenn sie sich zu Hause aufhalten müsse, nicht, wenn sie weit fort sei und arbeite.

Als sie schließlich im Verdacht steht, ein Fahrrad gestohlen zu haben, werden Gutachten über sie angefordert. Die Volksschule, die sie besucht hat, teilt mit, sie habe schon damals nicht vermocht, sich der Gemeinschaft anzuschließen, und sei wegen ihres verschlossenen Wesens von der Klasse abgelehnt worden. Außerdem habe sie selten Schularbeiten gemacht, da sie als Älteste der Geschwister daheim den Haushalt führen musste. Der Schulleiter findet, Elfriede mache den Eindruck einer „schwachsinnigen“ Person. Auch der Vater, Albert M., schlägt in dieselbe Kerbe und bezeichnet seine eigene Tochter als „geistig minderwertige Person“. Die Kripo beurteilt Elfriede wie folgt: „Die M. ist eine sehr verlogene Person. Macht auch den Eindruck einer geistig minderwertigen Person. Doch geht sie mit viel Geschick und Überlegung bei strafbaren Handlungen ans Werk.“ Das Amtsgericht verurteilt Elfriede wegen Diebstahls, danach kommt sie in ein Mädchenheim. Der Vater, ein ehemaliger Fürsorgepfleger, der in den letzten Jahren vor seiner Schwerbeschädigtenrente als Justizangestellter gearbeitet hatte, fragt in Briefen mehrfach nach, ob in dem Leipziger Mädchenheim auch wirklich eine Erziehung im nationalsozialistischen Geiste gewährleistet sei. Er ist seit Mai 1933 Parteimitglied, unterzeichnet auch privat mit „Heil Hitler“, ist Mitglied der NSV, seine Frau Ortsgruppenleiterin beim Frauenbund. Und er beschwert sich beim Jugendamt darüber, dass man den Eltern Elfriede entzogen hat, sie seien schwer getroffen: „Ich habe als politischer Leiter meinem Führer den Eid geleistet, den halte ich bis zum Tode (…). Ich kenne nur Volksgemeinschaft. Meine Familie und ich sind schwer geschädigt, durch das was man uns angetan. So ist uns bewiesen worden, wie man Schwerbeschädigte und kinderreiche Familien schützt. Es ist uns bewiesen und klargemacht worden, dass nationalsozialistischer Geist noch immer nicht überall eingezogen ist, dass es immer noch zweierlei Parteigenossen gibt, und ich lasse mir dies nicht gefallen. Einer fällt, entweder ich oder derjenige Mensch, der mein Unglück gewollt.“

Und tatsächlich wird Elfriede wieder aus dem Mädchenheim entlassen. Und der Vater erstattet dem Jugendamt Bericht über Elfriedes Entwicklung: Sie gehe wieder arbeiten, schreibt er, aber er behalte ihr Geld ein. Nur ab und an gebe er ihr ein paar Groschen. Das Problem des nächtlichen Einnässens, das Elfriede seit ihrem 8. Lebensjahr habe, habe er jetzt gelöst, indem er sie nachts mehrfach wecke.

Das ist der Moment, in dem es mir eiskalt den Rücken herunterläuft. Ein Vater, der seine Kinder nachmittags einsperrt, während die Mutter nie da ist. Der seine Tochter als „geistig minderwertig“ bezeichnet. Ein Mädchen, das immer wieder von zu Hause wegläuft, sogar im Winter, das lieber draußen schläft und hungert und stiehlt, als nach Hause zu gehen. Und das ins Bett pinkelt, jede Nacht. Mir kommt ein schrecklicher Verdacht. Ich ahne, warum Elfriede nicht nach Hause möchte. Und ich kann die Akte nicht mehr weglegen, kann jetzt nicht weitere Fälle anschauen – ich muss wissen, wie es weitergegangen ist. Ich bestelle bei der Archivaufsicht für den nächsten Tag alle Akten, die ich zu Elfriede finden kann: ihre Heimakten, und auch eine Gerichtsakte. Außerdem finde ich noch eine weitere Gerichtsakte zu ihrem Vater. Auch die bestelle ich.

Und am nächsten Tag lese ich weiter Elfriedes Geschichte. Wühle mich durch die Akten, die seit 80 Jahren niemand mehr geöffnet hat. Und ich sehe, dass im November 1938 Elfriedes Onkel zum Jugendamt geht und dort die Vermutung äußert, dass Elfriede von ihrem Vater missbraucht wird. Mehrfach habe er Übergriffigkeiten ihr gegenüber beobachtet, sagt er, auch existierten Nacktbilder von ihr, die der Vater gefertigt hatte. Er versuche, Elfriedes Vertrauen zu gewinnen, vor allem, seit sie immer wieder fortlaufe, aber sie sei ganz und gar verschlossen, richtiggehend verstockt. Weil Elfriede nicht aufhört, sich „herumzutreiben“, kommt sie in ein Heim in Mittweida. Von dort berichtet man über sie, es sei außerordentlich schwer, an sie heranzukommen, sie sei sehr still und mache einen verschüchterten Eindruck. Sie sei gerne für sich, lese viel und liebe es, draußen in der Natur zu sein. Aber auch darüber möchte Elfriede nicht reden: „Sie schien intensiv zu erleben. Ihre Naturschilderungen bewiesen ihre seelische Empfänglichkeit und Aufgeschlossenheit. Nur selten äußerte sie sich aber über solche Erlebnisse, sie verschloss alles in sich.“ Sie steht abseits, aber ein mangelndes Gemeinschaftsgefühl attestiert man ihr nicht. Den kleineren Kindern gegenüber zeigt sie sich liebevoll und zugewandt. Auch im Heim nässt Elfriede jede Nacht ein. Der Heimleitung fällt auf, dass Elfriede überhaupt kein Ekelgefühl besitzt, sie schläft im urinnassen Bettzeug weiter, sie wäscht sich nicht, wechselt nicht ihre Kleidung, wischt emotionslos Erbrochenes weg und reinigt ohne zu protestieren Toiletten. Von ihren Kameradinnen wird sie wegen ihrer „hochgradigen Unsauberkeit abgelehnt“, die Mädchen behaupten, Elfriede „stinke wie eine Leichenhalle“. Als ich das lese, frage ich mich, ob nicht auch das ein weiterer Hinweis auf sexuellen Kindesmissbrauch ist – der Versuch, Übergriffe abzuwehren, indem man ungewaschen ist und stinkt. Das Jugendamt sieht den Heimaufenthalt nicht als Erfolg an. Im September 1939 schreibt man: „Elfriede ist ein undiszipliniertes Mädchen (…)“, sie sei träge, sie falle durch Liederlichkeit und Schmutz auf. „Sie wird nie imstande sein, dem Guten um seiner selbst willen zu gehorchen.“ Sie sei „gemütsarm, empfindet schwach oder gar nicht“, „kann sich nicht zusammenreißen“, ist „verbockt“ und „lügnerisch“. „Finster und unfreundlich ist ihr Gesichtsausdruck“, bemerkt man, und dass ein „stinkender Geruch“ von ihr ausgeht. Man schlussfolgert: „Ihr Heimaufenthalt hat bisher keinerlei Erfolge erzielt. Es besteht wenig Aussicht, dass sie noch zum Besseren einlenkt.“ Über ihre Eltern schreibt man, sie machten einen „primitiven Eindruck“, sie seien „psychopathisch“. Vor allem der Vater sei ein bekannter Schreiber von Beschwerdebriefen an alle möglichen Behörden und Beamten, er sei ein Querulant – und in der Tat möchte er, dass Elfriede aus dem Heim zu ihm zurückkehrt. Dafür wendet er sich sogar schriftlich an den Reichsjugendführer.

Bevor Elfriede das Heim verlässt, spricht man sie auf die vermuteten „besonderen Beziehungen“ zu ihrem Vater an. Man vermerkt: „Sie ist geständig.“ Und ich ärgere mich darüber, dass man so schreibt, als hätte sie sich einer Straftat schuldig gemacht. Und in der Tat hat sie das, denn das erste, was geschieht, ist, dass ein Verfahren wegen „Blutschande“ eingeleitet wird – gegen Elfriede. Es wird zwar schnell eingestellt, da die „Blutschande“ in absteigender Linie erfolgte und Elfriede noch minderjährig ist, aber es muss sie dennoch erschreckt und eingeschüchtert haben. Sie läuft mehrfach aus dem Heim weg, kann Arbeitsstellen danach nicht halten, stiehlt wieder, weil sie Hunger hat. Der Kripo gegenüber äußert sie: „Ich habe es getan, weil ich in Not war.“ Und der vernehmende Kriminaloberassistent kommt zu dem Schluss: „Die M. machte bei der Vernehmung einen ruhigen, sachlichen, zurückgezogenen und wahrheitsliebenden Eindruck. Ich hatte das Gefühl, als wenn sie die Wahrheit sagte.“

Noch im Jahr 1939 zeigt Elfriede ihren Vater an. Es muss unglaublich schlimm für sie gewesen sein, in der Zeit zwischen Anzeige und Urteil zu Hause bei ihrem Vater wohnen zu müssen. Der Prozess gegen ihren Vater gerät für Elfriede zur Katastrophe. Über sie werden mehrere Glaubwürdigkeitsgutachten aus früheren Schulen und Heimen angefordert, Kripo, Jugendamt, Berufsschule und Nervenklinik sowie das Jugendgericht berichten über sie – und alle Berichte sind negativ und stellen sie in einem sehr schlechten Licht dar. Sie sei eine „haltlose, hochgradig unsaubere (…) Psychopathin“, heißt es. Außerdem sei sie arbeitsscheu und erziehungsresistent, auf Prügel und Auszanken reagiere sie verstockt oder weine „beleidigt große Tränen“. „Im Charakter hat sie etwas unechtes“, schreibt man, sie sei „charakterlich als wenig glaubwürdig anzusehen“. Außerdem neige sie zu Unwahrheiten, und sie habe eine rege Fantasie.

Über ihren Vater wird kein solches Leumunds- oder Führungszeugnis angefordert. Stattdessen wird betont, dass er ein „alter Kämpfer“ ist, ein Parteigenosse und politischer Leiter. Durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg erlangt er bei Gericht eine besondere Reputation, auch die Tatsache, dass er kriegsverschüttet worden war und dass er das Frontkämpferehrenkreuz besitzt, hilft ihm hier weiter.

Während des Prozesses will der Vater Elfriede als „geistig minderwertig“ klassifizieren lassen. Obwohl auch der Onkel für Elfriede aussagt, glaubt man ihr nicht. Denn sie ist eine bettnässende „Herumtreiberin“, die gegen einen ehrwürdigen Parteigenossen aussagt. Außerdem wird alles getan, um sie als verrückt dastehen zu lassen. All ihre Aufenthalte in Nervenkliniken werden ihr vorgehalten, außerdem ihre Verhaltensauffälligkeiten, die sie seit Beginn ihrer Periode (und damit auch seit Beginn des Missbrauchs) zeigt. Außerdem wird betont, dass sie sich bei ihren Fluchtversuchen mit Männern „herumtreibt“. Es ist die NS-Version dessen, was auch heute noch anzeigenden Opfern von Sexualstraftaten widerfährt: „Die denkt sich das alles nur aus“, „die ist auf irgendeinem Rachefeldzug“, „die ist doch eh verrückt“, „ich kann mir das bei dem gar nicht vorstellen“ und „die hatte bestimmt gerade ihre Tage und dreht deswegen so durch“ – sowie natürlich die komplette Durchleuchtung des sexuellen Vorlebens der Anzeigenden. Elfriede hatte schon mal einen Freund, und mit diesem auch Geschlechtsverkehr gehabt. Für das Gericht ein Hinweis auf ihre „Verdorbenheit“ und ihre „Triebhaftigkeit“.

Elfriede sagt vor Gericht aus, dass ihr Vater mehrfach mit ihr den Geschlechtsakt vollzogen habe. Sie berichtet, der Missbrauch habe 1935 begonnen, als ihre Mutter bei einem Frauenschaftsabend gewesen sei. Die Schwere der Handlungsweise habe sie damals nicht erkannt, sie habe geglaubt, dies sei normal, bis sie später durch einen Zeitungsartikel darüber aufgeklärt worden sei, dass nicht alle Väter dies mit ihren Kindern machen. Ihrer Mutter habe sie nichts davon erzählt, da sie sich so geschämt habe. Zweimal die Woche habe der Vater sie derart missbraucht. Sie vermute, dass er dies auch mit ihrer kleinen Schwester Erika tue. Die aber leugnet: Der Vater hätte sie nie angefasst, weil sie ganz anders sei als Elfriede. In diesem Nebensatz verrät Erika einiges über die Stimmung in der Familie: Elfriede ist das schwarze Schaf. Sie hat angezeigt. Und dies wird nicht als Versuch gewertet, ihre Geschwister zu schützen, sondern in der Familie wird die Erzählung von Elfriede als Familienzerstörerin etabliert: Elfriede lügt. Und wenn sie nicht lügt und der Vater sich wirklich an ihr vergriffen hat, dann wird es ihre Schuld sein: sie ist „so eine“, sie „treibt sich rum“, es liegt irgendwie an ihrer Art. Es ist also nie passiert und wenn doch, dann ist es ihre eigene Schuld. Als ich diesen Nebensatz lese – „denn ich bin ganz anders als Elfriede“ –, kann ich mir kaum vorstellen, wie mutig Elfriede gewesen sein muss, ohne ein Zuhause und ohne Unterstützung anzuzeigen. Die ganze Familie bis auf den Onkel gegen sich. Niemand glaubt ihr, sie wird beschämt und beschuldigt. Und trotzdem ist sie zur Polizei gegangen und hat versucht, mit dieser Anzeige ihre kleine Schwester zu schützen. Aber das Gericht glaubt ihr nicht. Es bezeichnet Elfriede als „in höchstem Grad unglaubwürdige Person“.

Für all das, was der Vater ihr sonst angetan hat, findet das Gericht Erklärungen: Das Fotografieren von Elfriede in nacktem Zustand sei der Beobachtung der Kindesentwicklung geschuldet, und wenn sie immer fortlaufe, sei es doch normal, dass der Vater sie danach nackt auf Ungeziefer und darauf, ob sie Verkehr gehabt habe, untersuche, schließlich habe sie dabei sicher „geschlechtliche Ausschweifungen“ gehabt. Und dass bei einem Parteigenossen mit sechs Kindern nicht alle Kinder ein eigenes Bett haben, sei auch nicht auffällig. Der Verdacht bestehe zwar, dass der Vater sich an ihr vergangen habe, aber mangels Beweisen erfolgt dann doch ein Freispruch. Er muss für Elfriede ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Elfriede wohnt immer noch zu Hause. Ich mag mir nicht vorstellen, wie das für sie gewesen sein muss. Die Mutter ist überhaupt nicht mehr da, sie arbeitet seit Kriegsbeginn beim Sanitätsdienst, schläft auf der Arbeitsstelle, ist nur alle sechs Tage mal zu Hause. Elfriede soll allein den elterlichen Haushalt führen, auf die Geschwister aufpassen, und sie ist den ganzen Tag den Übergriffen des Vaters ausgesetzt. Das hält sie nicht aus, sie reißt immer wieder aus. Ab März 1941 wird sie mehrfach von der Polizei bei Razzien in Hotels aufgegriffen, immer in Begleitung älterer Männer. Für die Polizei ein Zeichen dafür, dass sie sich heimlich prostituiert. Und das ist auch realistisch, denn wovon soll sie leben, wenn sie von daheim ausgerissen ist? Und Prostitution ist das, was sie von daheim kennt: der Vater behält all ihr Geld ein. Sie bekommt nicht mal Schuhe, wenn sie ihm nicht zu Willen ist. Elfriede ist daran gewöhnt, für Essen, ein Obdach und das Allernotwendigste sexuell zur Verfügung zu stehen. So kennt sie es von zu Hause. Sie wird von der Polizei verwarnt. Bald schmeißt der Vater sie aus der Wohnung, Elfriede weiß nicht, wohin und was tun. Sie prostituiert sich in einem Hotel und wird dort erneut von der Polizei aufgegriffen. Sie wird auf Geschlechtskrankheiten zwangsuntersucht. Sie betont, sie wolle ja normal arbeiten, sie habe mehrfach angeboten, anstelle ihrer Mutter deren Arbeitsstelle zu besetzen, aber dies sei abgelehnt worden. Und dann gibt sie zu, einen Soldaten als Freier gehabt zu haben. Von da an ist Elfriede für die Polizei eine besonders beobachtenswerte Person. Denn die Polizei sieht eine Gefährdung der Wehrmacht durch diese „heruntergekommene“ Frau, die noch dazu möglicherweise geschlechtskrank ist. Und dann meldet sich auch noch ihr Vater bei der Kripo und behauptet, daheim seien massenweise Briefe von Soldaten angekommen, alle für Elfriede. Die Behörden sind hoch alarmiert.

Aber in diesem Sommer 1941 passiert noch etwas anderes: Auch Elfriedes Schwester Erika wird von der Polizei aufgegriffen, weil sie von Zuhause weggelaufen ist, im Freien schläft und sich prostituiert, um zu überleben. Bei der Vernehmung sagt Erika ohne Scheu, ihr Vater sei doch selber schuld, wenn sie unsittliche Handlungen begehe, denn er habe ihr diese ja erst beigebracht. Der vernehmende Beamte kann es erst nicht glauben – nach mehreren Stunden aber ist er überzeugt: In dieser Familie stimmt überhaupt nichts. Früh um halb sechs wird Albert M. in seiner Wohnung festgenommen. Seine Kinder sowie seine Ehefrau werden auf die Wache bestellt. Alle Kinder bis auf das jüngste sagen aus, über Jahre missbraucht worden zu sein – Erika (18), Lieselotte (17), Albert (19) und Irmgard (16). Nur Elfriede weigert sich, auszusagen. Sie begründet dies damit, dass sie Angst hat, wieder in eine Anstalt zu kommen, so wie beim ersten Prozess. Sie vertraut den Behörden nicht mehr. Die restlichen Geschwister aber berichten auch in den Details übereinstimmend von sexuellem Kindesmissbrauch. Sie alle hätten lange nicht gewusst, dass dies verboten sei. Ihr Vater hätte ihnen gesagt, alle Väter würden dies mit ihren Kindern tun, und Kinder hätten zu gehorchen; wenn er dies nicht mit ihnen tue, würden sie krank. Da er bei Gericht gearbeitet hatte, waren sie davon ausgegangen, er wisse, wie weit er gehen könne. Der Vater leugnet alles.

In der Zwischenzeit wird Elfriede immer wieder als heimliche Prostituierte aufgegriffen. Mehrfach wird sie der „Frauenhilfsstelle“ zugeführt, immer wieder muss sie sich zwangsuntersuchen lassen. Sie ist traumatisiert, der Vater ist im Polizeigefängnis, und sie muss daheim auf fünf ebenso traumatisierte Geschwister aufpassen und den Haushalt führen und zudem Vollzeit arbeiten – sie verschläft, bis ihr gekündigt wird. Es ist alles zu viel für sie. Als ihr nachgewiesen wird, dass sie einen Schützen der Wehrmacht mit Tripper angesteckt hat, kommt sie für einen Monat ins Gefängnis – wegen „verbotenen Beischlafs in Folge einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Geschlechtskrankheit“.

Elfriede wird nie wieder freikommen. Denn noch während sie im Gefängnis ist, wird im Januar 1942 darüber beraten, was weiter mit ihr zu tun sei. Polizeiliche Vorbeugehaft wegen „asozialen Verhaltens“ wird vorgeschlagen. Im Hintergrund werden Gutachten über sie erstellt – und ein „Krimineller Lebenslauf über die Hausangestellte und Asoziale Elfriede M.“. In diesen Dokumenten wird alles, was Elfriede jemals erlebt, getan oder gesagt hat, gegen sie verwendet. Sogar, dass ihr Vater wegen „Blutschande“ in Untersuchungshaft sitzt, wird ihr angelastet: Sie entstamme also einer „asozialen“ Familie, in der der Vater die Kinder missbrauche, sei demzufolge erblich belastet, heißt es. Sie sei eine Bettnässerin, eine Herumtreiberin, absolut erziehungsunfähig, liederlich, verwahrlost, verschlagen und renitent. Sie sei „arbeitsscheu“ und habe eine „starke verbrecherische Neigung“. Durch ihre sexuelle Hemmungslosigkeit und Triebhaftigkeit stelle sie eine Ansteckungsgefahr für Männer im Allgemeinen und die Wehrmacht im Besonderen dar. Und man kommt zu dem Schluss: „Elfriede M. verdient nunmehr keine Rücksichtnahme mehr. Sie hat genügend bewiesen, dass sie überhaupt nicht den Willen hat, ein geordnetes Leben zu führen und zu arbeiten. Sie bedeutet infolge ihrer Arbeitsscheu, ihrer Trieb- und Hemmungslosigkeit eine Gefahr für die Allgemeinheit. Es erscheinen strengste Maßnahmen als erforderlich, um E.M. wieder an Arbeit und Ordnung zu gewöhnen.“ Und „strengste Maßnahmen“, das bedeutet: KZ. Am 23. Januar 1942 wird Elfriede ins KZ Ravensbrück eingeliefert.

In der Zwischenzeit läuft noch immer der Prozess, den ihre Geschwister gegen den sie missbrauchenden Vater angestrengt haben. Auch diesmal versucht er, seine Kinder als „gehässig“ darzustellen und die Anzeige als einen „Racheakt“ vor allem von Erika, die sich mit Männern „herumtreibe“, was er ihr verboten habe. Er schreibt Briefe an die Polizei und an Behörden, in denen er sie über seine „lügende Tochter“ Erika „aufklärt“, aber diesmal funktioniert diese Taktik nicht. Es sind zu viele Kinder gleichzeitig, die gegen ihn aussagen. Auch die Glaubwürdigkeitsgutachten der Kinder kommen zu dem Schluss, es sei kein Grund festzustellen, weswegen die Kinder dem Vater ohne Not so etwas Schwerwiegendes anlasten wollten. Im Gegenteil sei auffällig, dass sie nur widerwillig aussagten, und bemüht seien, ihn nicht unnötig zu belasten. Vor Gericht verweigern alle Kinder sowie die Ehefrau dann die Aussage. Albert M. wird dennoch verurteilt: am 10. April 1942 wird ihm wegen Sittlichkeitsverbrechens an seinen eigenen Kindern die Strafe von 5 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verkündet. Außerdem wird ein Parteigerichtsverfahren gegen ihn angestrengt, er wird aus der Partei ausgeschlossen. Das Ehrenkreuz der Deutschen Mutter bekommt seine Frau nicht mehr. Albert M. rebelliert dagegen, will in Berufung gehen, schreibt wieder Briefe. Er drängt darauf, psychiatrisch untersucht zu werden, um zu beweisen, dass er all dies gar nicht getan haben könne. Seine Kinder seien erblich belastet und unglaubwürdig, schreibt er, Erika treibe sich mit Männern herum. Es nutzt ihm nichts mehr.

Aber das Urteil gegen Albert M. und seine bewiesene Schuld führen nicht dazu, dass Elfriede aus Ravensbrück wieder freikommt. Im Gegenteil scheint die Tatsache, dass sie einer Familie entstammt, in der der Vater derartige sexuelle Übergriffe auf seine eigenen Kinder getätigt hat, ihr eher zum Nachteil zu gereichen. Was ihre Entwicklung, auch ihre „Fehltritte“ erklären und entschuldigen könnte, wird zu etwas, das gegen Elfriede verwendet wird: als Beweis dafür, dass sie von einem Vater abstammt, der „asozial“ ist. Und somit muss auch sie „asozial“ sein – denn dies wird laut nationalsozialistischer Forschung vererbt. Und weist nicht all ihr Verhalten darauf hin, dass sie diesem erbbiologisch festgelegten Schicksal nicht entkommen kann? Die Verdorbenheit wird allein ihr zugeschrieben, sie gilt als hoffnungsloser Fall.

Am 8. Juli 1942, gerade mal einige Monate nach dem Urteil gegen ihren Vater, wird Elfriede, die mittlerweile von Ravensbrück nach Auschwitz verschafft worden ist, von den Nationalsozialisten ermordet. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 21 Jahre alt. Die Behörden heben ihre Akte auf: für „kriminalbiologische Forschungszwecke“ über „asoziale Sippen“. Als wäre das, was Elfriede angetan worden ist, Ausdruck ihrer eigenen Verkommenheit und nicht der ihres Vaters. Und als wäre es vererbbar. Ihr Vater bleibt nicht lange im Gefängnis. Er stellt mehrere Anträge auf Haftunfähigkeit wegen Krankheit, schreibt den Gauleiter an und den Führer: sein Sohn habe 1942 in Russland einen Kopfschuss erlitten, seine Tochter Elfriede sei in einem „oberschlesischen Arbeitsdienstlager“ an „Hitzschlag“ gestorben. Zwei Kinder habe er also, wie er es nennt, „dem Vaterland geopfert“ – ob er nicht wieder freikommen könne? Und tatsächlich kommt er 1944 frei. Die restliche Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt und 1945 ganz erlassen. Er verstirbt 1948. Das letzte, was ich von Elfriedes Familie lese, ist ein Antrag darauf, dass Elfriedes Mutter doch bitte als Hinterbliebene einer „VDN“, einer Verfolgten des Naziregimes, anerkannt werden möge. Als die Familie aufgefordert wird, darzulegen, warum Elfriede nach Auschwitz gekommen ist, herrscht Schweigen. Und dann: nichts mehr, nie wieder. Ewige Stille.

Als ich die letzte Akte beiseitelege, ist mir ganz schwindelig. Drei Tage habe ich insgesamt mit Elfriede verbracht. Drei Tage, in denen ich mich in ihre Geschichte wie in einen Sog hereingezogen fühlte. In denen ich entsetzt und erschrocken war über das Furchtbare, was ihr angetan worden ist, und fassungslos über den Mut von Elfriede und ihren Geschwistern. Drei Tage, in denen ich des Öfteren heimlich auf dem Archivklo geweint habe. Drei Tage, in denen ich immer gehofft habe, es würde eine Kehrtwende in dieser Geschichte eintreten. Aber nichts wurde besser, im Gegenteil. Ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs ist in Auschwitz ermordet worden. Mir ist klar, dass sie damit nicht die einzige ist. Aber für mich hat sie jetzt ein Gesicht, und sie hat einen Namen. Elfriede.

Und als ich an diesem dritten und letzten Tag das Archiv verlasse, fühle ich mich innerlich wie betäubt. Und ich habe das Gefühl, dass es knirscht unter meinen Schritten. Als würde ich über etwas Zersplittertes, Zerbrochenes laufen. Glasscherben. Oder Eissplitter. Oder mein Herz.

(c) Anne S. Respondek

Verwendete Quellen aus dem Staatsarchiv Leipzig:
(1) Polizeipräsidium Leipzig 20031, PP-S 2317/116, Albert M. wegen Sittlichkeitsverbrechens
(2) Landgericht Leipzig 20114, 07064 und 07065 und 02856, Albert M. wegen Sexualvergehens an seinen Kindern
(3) Amtsgericht Leipzig 20124, 01089, Elfriede M. wegen Diebstahls
(4) Erziehungs- und Pflegeheim Mittweida, 22211, 18, Elfriede M.
(5) Bezirkstag und Rat des Bezirks Leipzig 20237, 13223, M. N.N.
(6) Kriminalpolizei Leipzig PolPr 20031, PP-S 2218, Elfriede M.

Anmerkungen:
Victim Blaming (Beschuldigung des Opfers, Täter-Opfer-Umkehr) heißt, dass dem Opfer einer Gewalttat die Schuld oder zumindest eine Mitschuld an der Tat zugeschrieben wird. Häufig geschieht dies nach sexuellen Übergriffen oder Vergewaltigungen mit dem Ziel, den Täter zu entschuldigen und das Opfer einzuschüchtern und z.B. vom Erstatten einer Anzeige abzuhalten.