
Dieses Interview erschien zuerst als „5 Fragen an Anne S. Respondek“ in: Schon, Manuela, Ausverkauft! Prostitution im Spiegel von Wissenschaft und Politik, tredition Verlag 2021, S. 16 – 27
Frage: „Als Historikerin beschäftigen Sie sich eingehend mit der Prostitutionspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus. Welche zentralen Erkenntnisse konnten Sie in Ihrer Forschung gewinnen?“
Zunächst einmal ist mir klargeworden, wie sehr ein Staat von der Existenz der Prostitution profitieren kann. Prostitution war im Nationalsozialismus legal, aber auf Anbieterinnenseite erheblich kriminalisiert. Die sich in der Prostitution befindlichen Frauen sind dabei Opfer mehrerer Diskriminierungsdimensionen geworden: als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft, als Frau, deren Sexualität nicht vom Staat oder Ehemann kontrolliert werden kann, als oftmals rassistisch abgewertete Person (Frauen aus Osteuropa wurde z.B. gar keine „Geschlechtsehre“ zugestanden, an der sie hätten verletzt werden können, ebenso wurde ihnen häufig abgesprochen, überhaupt empfindsam genug zu sein, um von sexuellen Übergriffen überhaupt Schäden davonzutragen) und als arme Frauen, denn das waren die meisten von ihnen. In den Polizeiakten aus dem Dritten Reich ist zu sehen, wie heftig Prostituierte von der Polizei gegängelt und verfolgt worden sind, und auf wie wenig Verständnis und Mitgefühl für ihre Lage sie trafen. Ebenso wurden Prostituierte als „Seuchenschleudern“ begriffen, sie mussten regelmäßig zu Zwangsuntersuchungen erscheinen. Und sie mussten sich bei der Polizei anmelden. Die Anmeldung als Prostituierte hatte aber weitreichende Folgen: die Frau stand künftig unter medizinischer, aber auch unter polizeilicher Aufsicht. Der Aufenthalt auf bestimmten Straßen und Plätzen war ihr verboten, manchmal auch, nachts draußen zu sein usw. Der NS-Staat hat nicht Prostitution verboten, im Gegenteil hat er durch die Kasernierung der Prostituierten die Bordelle und Bordellstraßen erst (wieder) geöffnet oder neu erschaffen. Dies hatte – durchaus gewollt – die Ausgrenzung von Prostituierten aus der Gemeinschaft zur Folge. Prostituierte wurden als „asoziale Elemente“ verfolgt und es kam durchaus auch zu Einweisungen in KZ. Ab Kriegsbeginn aber erfolgte eine prostitutionspolitische Wende des nationalsozialistischen Staates. Jetzt versuchte man nicht mehr nur, Prostitution durch Kasernierungen und Kriminalisierung einzudämmen, sondern machte sich zusätzlich die Existenz der Prostitution zunutze. Bordelle für die Wehrmacht wurden errichtet, auch Bordelle für die SS. Dies fand größtenteils in den besetzten Ländern statt, eben überall dort, wo die Wehrmacht war. In Frankreich übernahm die Wehrmacht einfach Bordelle – teilweise mitsamt Inventar und den Frauen. Waren nicht genug Frauen zugegen, erpresste man eine „freiwillige Meldung“ von Prostituierten, die wegen ihrer Prostitution in ein Lager gesteckt worden waren. Auch im besetzten Osteuropa ging man so vor, dass man die Frauen in der Prostitution erst stark kriminalisierte, auch Hurenkarteien anlegte, sie medizinisch überwachte oder bei Razzien gleich festnahm – und sie dann andererseits wieder zu genau dem zwang, weswegen man sie eigentlich kriminalisiert hatte: Prostitution. Da die Menschen Osteuropas für die Nationalsozialisten so oder so „Untermenschen“ waren, lief der „Rekrutierungsvorgang“ ins Wehrmachtsbordell oftmals auch deutlich gewalttätiger ab als bei den Wehrmachtsbordellen im besetzten West- oder Nordeuropa. Für das besetzte Polen legte Heinrich Himmler fest, dass jede polnische Frau, die mit einem deutschen Mann Geschlechtsverkehr hatte, in ein Bordell eingewiesen werden könne. Viele Frauen, die sich der Kriegsbedingungen wegen prostituierten oder schon vorher Prostituierte gewesen waren, wurden einfach in Wehrmachts- oder SS-Bordelle „eingewiesen“ – sie bekamen bei diesem Vorgang ein Merkblatt ausgehändigt, in welchem sie darüber belehrt wurden, dass sie bei Widerstand und Nichteinhaltung der „Regeln“ in ein KZ eingewiesen würden. Noch weiter östlich hat man auf diese Merkblätter und den bürokratischen Anstrich gleich ganz verzichtet und viele Frauen und Mädchen – manche davon noch „jungfräulich“ – einfach in die Wehrmachts- und SS-Bordelle verschleppt. Für die Wehrmachtssoldaten kostete der Bordellbesuch 2 bis 3 Reichsmark. In der Nähe eines jeden Wehrmachtsbordells waren Sanitätsstuben eingerichtet, in denen sie sich untersuchen und sanieren – also einer prophylaktischen medizinischen Behandlung auf Geschlechtskrankheiten unterziehen – lassen mussten. Das war vorgeschrieben, ebenso wie der Gebrauch eines Kondoms, beides wurde aber häufig von den deutschen Soldaten unterlaufen. Die Frauen in den Bordellen waren einem strengen Regime unterworfen. Sie durften das Haus nur verlassen, wenn sie einen Urlaubsantrag – z.B. auf Stadtausgang – gestellt hatten, und niemals allein. Nachts durften sie überhaupt nicht raus, aber tagsüber mussten sie den Soldaten zur Verfügung stehen. Zwei Mal die Woche wurden sie zwangsuntersucht. Bei Verfehlungen oder „Fehlverhalten“ drohte KZ, oder, weiter östlich, gleich die Erschießung. – Auch in den Konzentrationslagern wurden Bordelle errichtet – der Bordellbesuch sollte für die männlichen Häftlinge ein Anreiz sein, fleißig zu arbeiten und keinen Widerstand zu leisten. Auch für die Fremd- und Zwangsarbeiter, die sich auf dem Boden des Deutschen Reichs befanden, wurden ab 1942 Bordelle gebaut. Ganz im Sinne der NS-Rassedoktrin versuchte man dort, den (Zwangs-)Arbeitern Frauen desselben „Volkstums“ zur Verfügung zu stellen. – Eine der zentralen Erkenntnisse meiner Forschungsarbeit war also bisher, dass ein Staat, der Prostituierte kriminalisiert, nicht prinzipiell gegen Prostitution sein muss. Hier haben wir mit dem NS-Staat ein Beispiel dafür, dass eine Kriminalisierung von Frauen in der Prostitution und ihre gleichzeitige Ausnutzung durch den Staat sehr nah beieinanderliegen. Für den NS-Staat waren Prostituierte Abschaum, er hat sie verfolgt, eingesperrt und auch getötet. Zugleich aber hat er sie sexuell ausgebeutet. Es gibt Beispiele von Frauen, die in KZ-Bordellen gewesen sind, und die wegen Prostitution in das Konzentrationslager eingewiesen worden waren – nur um sie dort dazu zu zwingen, die Prostitution (diesmal im Sinne des Staates) wiederaufzunehmen. Dasselbe gilt für die Bordelle der Wehrmacht und SS. In jedem besetzten Gebiet galten mit Einmarsch der Deutschen dieselben Regeln für Prostitution. Und in jedem besetzten Gebiet haben die Kriminalpolizei und die Sicherheitspolizei sofort damit begonnen, Jagd auf prostitutionsverdächtige Frauen zu machen: mit Razzien, mit Festnahmen, mit dem Anlegen von Karteien usw. Aus dem Pool der derart festgestellten Frauen hat man dann oftmals den Nachschub für die Wehrmachtsbordelle selektiert. Der NS-Staat hat hier eindeutig als Zuhälter fungiert: er hat Frauen zur Prostitution gezwungen, er hat eindeutig Menschenhandel betrieben. Und er hat davon massiv profitiert.
Frage: „In Ihrem Buch „Gerne will ich wieder ins Bordell gehen…“ haben sie die Geschichte von Maria K. aufgearbeitet. Wer war Maria und was konnten Sie über Ihren Lebensweg herausfinden?“
Maria K. ist eine polnische Frau, die in ein Wehrmachtsbordell verschafft worden ist. Als ich ihre Polizeiakte aus der Zeit der deutschen Besatzung fand, wurde mir klar, dass man anhand ihres Einzelfalls gut erklären kann, was all die Verordnungen und Bestimmungen über Prostitution während des Besatzungsregimes, aber auch die Regeln, die im Wehrmachtsbordell galten, für eine betroffene Frau bedeuteten. Denn es waren ja konkrete Menschen, für die diese Regeln und Vorgehensweisen der Polizei, der Wehrmacht und der Sanitätsärzte galten – was bedeutete das denn genau? In Marias Akte wurde vermerkt, sie habe sich freiwillig für das Wehrmachtsbordell gemeldet. Das ist ja etwas, was auch in der Forschung immer wieder behauptet wird: bei den Wehrmachtsbordellen handele es sich nicht um Zwangsprostitution. An Marias Fall wird aber deutlich, dass dieser Freiwilligkeitsmythos etwas ist, das aus der NS-Zeit kommt. Es wurde damals schon behauptet, die Frauen in den Bordellen hätten sich freiwillig gemeldet, oder es mache ihnen nichts aus. Am konkreten Fall sieht man aber deutlich, wie viel Gewalt der NS-Staat diesen Frauen konkret angetan hat. Maria K. ist bei Einmarsch der Deutschen noch eine polnische Verkäuferin in Posen. Sie wird allerdings festgenommen, weil ihr vorgeworfen wird, sie habe ein Verhältnis mit einem deutschen Mann. Die Kriminalpolizei geht der Sache nach. Weil Maria K. von ihrem Verhältnis Geschenke angenommen hat, formuliert die Kripo den Verdacht eines prostitutiven Kontakts. Fortan gilt sie als „heimliche“ (also nicht angemeldete) Prostituierte. Sie wird immer wieder festgenommen und zwangsuntersucht. Irgendwann verliert sie ihre Wohnung und auch ihre Arbeit, der sie ja nicht regelmäßig nachgehen kann, da sie immer wieder für mehrere Tage festgesetzt wird. Jetzt schnappen die Behörden zu: Maria K. gilt jetzt als obdachlose, arbeitslose Prostituierte, sprich: als „Asoziale“. Mehrfach kommt sie ins Gefängnis. In den Zwischenzeiten prostituiert sie sich dann vermutlich wirklich. Schliesslich wird sie ins Wehrmachtsbordell in Posen zwangseingewiesen. Dort hat sie keine Freiheiten. Sie verstößt mehrfach gegen die Regeln, einmal läuft sie weg, weil sie so erschöpft ist, dass sie nicht mehr kann – die Behörden hatten ihr aber keinen freien Tag genehmigt. Sie wehrt sich auch gegen die Zwangsuntersuchungen – einmal beißt sie einen Sanitäter, der sie gynäkologisch untersuchen soll. Und immer wieder greift sie zu Alkohol, weil sie ihre Lage nicht mehr erträgt. Wenn sie das tut, beginnt sie häufig zu randalieren. Man sperrt sie dann in ihrem Verrichtungszimmer ein und droht ihr mit KZ. Irgendwann wird den Behörden dann klar: Maria K. kann nicht mehr. Sie ist für den NS-Staat nicht mehr zu gebrauchen. Ihre „sexuelle Arbeitskraft“ ist erschöpft. Also steckt man sie zur Strafe für ihren Widerstand für ein Jahr in ein Straflager, wo sie hungern, frieren und Zwangsarbeit leisten muss und auch körperlicher Gewalt ausgesetzt ist. Als sie nach einem Jahr wieder entlassen wird, lässt die Kripo sie sofort in „Schutzhaft“ nehmen. Denn sie sei, als „Asoziale“, als „obdachlose Prostituierte“, eine Gefahr für die Gemeinschaft, aber auch potentielle Ansteckungsquelle für die Wehrmachtssoldaten. Sie wird verhört – und aus den Vernehmungsprotokollen wird klar, dass ihr sehr wohl bewusst gewesen ist, wie ernst ihre Lage war. Sie wusste genau, dass eine Einweisung in ein KZ bevorstand, und bettelte buchstäblich um ihr Leben. Dies ist genau die Situation, in der sie meint, sie würde alles tun, was die Behörden wollen: „Gerne will ich wieder ins Bordell gehen!“ – und das vermerken die Behörden dann als „freiwillige Meldung ins Wehrmachtsbordell“. Es nutzt ihr allerdings nichts. Maria K. wird nicht wieder ins Wehrmachtsbordell verschafft, sondern nach Auschwitz – wo das SS-Hygieneinstitut in Rajsko mit ihr gynäkologische Experimente durchführt. Sie überlebt den Krieg und arbeitet später in einem Hotel, in dem vor allem deutsche Touristen übernachten. Die Geschichte von Maria ist unglaublich bewegend. Aber sie ist kein Einzelfall. Hinter jeder Frau und hinter jedem Mädchen aus den KZ-, Wehrmachts-, SS- und Fremdarbeiterbordellen steckt eine solche Geschichte.
Frage: „Warum wurden die Bordelle für die Wehrmacht und die SS gebaut, und welche Auswirkungen hatte das staatlich kontrollierte Bordellwesen?“
Der Bordellbau für die Wehrmacht begann in den besetzten Ländern unter der Prämisse, die „Sexualnot“ der Soldaten zu lindern. Denn dies führe, so meinte der NS-Staat, zu homosexuellen Handlungen – und diese wurden strafrechtlich verfolgt. Den Soldaten sollten Frauen zur Verfügung gestellt werden, aber eben nicht einfach irgendwelche: es sollte sichergestellt sein, dass die Soldaten keine Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung aufnahmen. Denn diese Frauen hätten ja Spioninnen sein können, oder aber der Soldat würde durch seine Zuneigung erkennen, dass es sich hier nicht um „Untermenschen“ handelt. Der deutsche Soldat hatte aber immer und jederzeit als Vertreter des Besatzungsregimes aufzutreten und zu handeln. Emotionale Beziehungen zu den Besetzten galten als unerwünscht, auch hinsichtlich der NS-Rasseideologie. Fand der sexuelle Kontakt allerdings im Wehrmachtsbordell statt, so war der Vorwurf der „Rassenschande“ (außer für Jüdinnen, diese waren offiziell in den Wehrmachtsbordellen nicht gestattet) im Wehrmachtsbordell außer Kraft gesetzt. Himmler verfügte, es handle sich ja um Beziehungen „sachlich-wirtschaftlicher Art“: „Ein gesellschaftlicher Verkehr setzt ein gewisses Maß an Achtung und geistigen Beziehungen voraus, die in den Bordellen nicht gegeben sind.“ Ins heutige Deutsch übersetzt bedeutet das: die Frauen in den Bordellen galten den NS-Besatzern als Objekte, vor denen man keinen Respekt haben musste. Der wichtigste Faktor für die Errichtung der Wehrmachtsbordelle war aber die Angst der Wehrmachtführung vor Geschlechtskrankheiten. Denn ein geschlechtskranker Soldat ist ein Soldat, der ausfällt, und das galt es zu verhindern. Und da man nicht die gesamte weibliche Bevölkerung unter gynäkologische Zwangskontrolle stellen konnte und die Soldaten häufig zu heimlichen Prostituierten gingen, befand man, man müsse den Soldaten gesundheitlich kontrollierte Frauen zur Verfügung stellen: in einem Wehrmachtsbordell.
Die Auswirkungen, die das staatlich errichtete Bordellwesen hatte, waren dann aber nicht die, die die Wehrmachtführung vorgesehen hatte. Die Geschlechtskrankheiten nahmen nicht ab, sondern zu. Denn die Wehrmachtsoldaten gingen weiterhin zu heimlichen Prostituierten – hier konnten sie den gewünschten Verkehr ohne Kondom besser durchsetzen. Steckten sie sich dort an, besuchten sie ein Wehrmachtsbordell und gaben dann an, sich dort infiziert zu haben. Diese Meldungen erwiesen sich häufig als falsch. Auch Ansteckungen bei Vergewaltigungen wurden so vertuscht. Eine weitere Auswirkung des Bordellwesens war die Zunahme an Gewalttaten gegen nichtprostituierte Frauen. Die Bordelle verhinderten Sexualstraftaten gegen Frauen nicht – sie befeuerten sie. Bereits 1942 beklagt das Oberkommando des Heeres, die Soldaten nähmen aus den Bordellen ein äußerst abwertendes Frauenbild mit – dies wird für den NS-Staat aber nur deswegen ein Problem, weil die Soldaten ihr Frauenbild während des Fronturlaubs mit in die Heimat tragen und die deutschen (Ehe-)Frauen darunter leiden lassen. Eine Einstellung des Bordellwesens erfolgt dennoch nicht. Allerdings häufen sich im Laufe des Krieges immer mehr Meldungen über Exzesse in den Wehrmachtsbordellen: Schießereien, Schlägereien, Übergriffe, Alkoholexzesse. Auch wird immer wieder thematisiert, dass die Bordelle dafür sorgen, dass auch junge Soldaten, die gar nicht vorhatten, je zu Prostituierten zu gehen, von ihren Kameraden in diese Einrichtungen mitgenommen werden. Das Bordellwesen, so stellt die Wehrmachtführung sehr schnell nach Einrichtung der Bordelle fest, produziert also immer mehr soldatische Freier. Die Triebabfuhrtheorie, nach der die Bereitstellung von Prostituierten Vergewaltigungen verhindere, funktioniert ebensowenig: die Soldaten begehen nicht nur Übergriffe an den Prostituierten – werden sie, was selten genug geschah – wegen Vergewaltigung einer einheimischen Frau angeklagt, berufen sie sich darauf, sie hätten gedacht, es handle sich dabei um eine Prostituierte – und kommen damit davon. Das staatlich errichtete Bordellwesen produziert also Täter – und es sorgt dafür, dass sich die Soldaten die „Kriegsbeute Frau“ nicht mehr individuell besorgen müssen.
Frage: „Trotz einer lebendigen Erinnerungskultur kommt das Thema Prostitution in dieser bis heute kaum vor. Gedenkstätten klammern das Thema fast vollständig aus. Prostituierte Frauen erscheinen als Opfer zweiter Klasse. Welche Erklärungen könnte es Ihrer Meinung dafür geben?“
Das lässt sich erklären durch die Stigmatisierung, der Frauen in der Prostitution unterworfen sind. Die Kategorisierung als „Asoziale“ wirkt da einfach fort, ebenso wie der Mythos der „freiwilligen Meldung“. Dass noch immer davon gesprochen wird, es habe sich hier nicht um Zwangsprostitution gehandelt, hat natürlich Konsequenzen: Wenn wir als Gesellschaft diese Frauen nicht als Opfergruppe anerkennen, dann muss sich der deutsche Staat auch nicht für das den Frauen angetane Leid entschuldigen. Und dann muss auch niemand Entschädigungsleistungen zahlen. Dass diese Frauen nie erwähnt werden, sondern in der Vergessenheit versinken, hat auch noch eine andere Auswirkung: nämlich dass wir als Gesellschaft nicht anerkennen müssen, dass es sich hierbei um eine weitere Verbrechensart handelt, derer sich die Wehrmacht schuldig gemacht hat.
Frage: „Erkennen Sie Parallelen in den Debatten um die Prostitution im Nationalsozialismus und den zeitgenössischen Debatten um Prostitution?“
Ja, absolut. Zunächst ist auffällig, dass noch immer der Mythos existiert, man könne eine Prostituierte ja nicht vergewaltigen (denn dabei handelt es sich ja, wenn es um Zwangsprostitution geht). Auch die soldatischen Freier merken, wenn sie über ihre Besuche in Wehrmachtsbordellen sprechen, immer wieder an, das sei ja schon zuvor der Beruf dieser Frauen gewesen. Das dient ihnen dazu, ihr Gewissen zu erleichtern. Aber natürlich kann man auch eine Frau in der Prostitution vergewaltigen. Und natürlich ist es Zwangsprostitution, wenn man eine Frau wegen Prostitution festnimmt und sie dann andernorts unter Androhung von Haft, Folter oder Tod dazu bringt, sich zu prostituieren. Aber wir haben in Deutschland noch immer keine Definition für Zwangsprostitution. Und das kommt den Frauen aus den Wehrmachtsbordellen nicht zugute. Über sie wird auch heute noch gesagt, sie hätten doch stattdessen auch ins KZ gehen können. Oder in den Bordellen sei es wenigstens warm gewesen und was zu essen hätten sie ja auch gehabt. Ihr Überleben wird ihnen vorgeworfen. Aber wir werfen doch auch den Inhaftierten aus den KZ nicht vor, dass sie überlebt haben. Manchmal wird sogar behauptet, es habe sich hierbei nicht um Zwangsprostitution gehandelt, weil die Intention der Wehrmacht ja schliesslich nicht gewesen sei, die Frauen sexuell zu versklaven. Man habe eben nicht anders handeln können, um den Soldaten Frauen zur Verfügung zu stellen und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Alles in allem hat man da noch sehr, sehr viel Verständnis für die Wehrmacht – und damit für Täter. Ich habe in meinem Buch vorgeschlagen, folgende Fragen zu stellen, um zu erkennen, ob Zwangsprostitution vorliegt:
Wird die Frau mittels Druck, Zwang, der Androhung von Gewalt, Fremdbestimmung, Einsperrung oder massiven Eingriffen auf ihren Leib oder ihr Leben dazu aufgefordert, die Prostitution aufzunehmen? Wird die Frau mittels Druck, Zwang, Einsperrung oder der Androhung von Strafe, Freiheitsberaubung oder Gewalt dazu gebracht, in der Prostitution zu verbleiben? Ist sie in der Lage, die Prostitution jederzeit auf eigenen Wunsch hin zu beenden, ohne negative Folgen (Verfolgung, Einsperrung, strafrechtliche Konsequenzen, Gewalt) befürchten zu müssen? Kann sie Freier ablehnen? Kann sie Preise und Praktiken selbst bestimmen? Wird sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt? Findet eine Einsperrung statt?
Wenn man nach diesen Dingen fragt, wird deutlich, dass Zwangsprostitution vorgelegen hat. Was jetzt folgen muss, ist: noch mehr Forschung. Und auch: eine Anerkennung des Leids, das die deutsche Wehrmacht über Frauen und Mädchen in den besetzten Ländern gebracht hat. Viele von ihnen sind bereits gestorben. Wir als Gesellschaft haben es bereits versäumt, ihnen wenigstens Gelder zu zahlen, die ihnen helfen, die Folgen dieser Sexualgewalt zu lindern. Versäumen wir nicht auch noch die ihre Anerkennung als Opfergruppe und die Bitte um Entschuldigung!