Julie H.: Ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet – Prostitution im Nationalsozialismus
(Dieser Text ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)
Als im März 1939 ihre christlich-deutschen Pflegeeltern die Adoption rückgängig machen, muss die 19-jährige Julie H. wieder ihren alten, jüdisch klingenden Geburtsnamen tragen.
Sie hat jetzt kein Zuhause mehr, findet keine Arbeit, und die Nationalsozialisten sind sehr daran interessiert, ihre genaue „Rassezugehörigkeit“ festzustellen – soll sie jetzt als „Volljüdin“, als „Halbjüdin“ oder als „Mischling 1. Grades“ weiterverfolgt werden?
Julie H. steht unter Druck.
Sie will überleben.
Aber wie?
Da verfällt sie auf einen Trick, der ihr die Rückkehr in die vermeintlich sichere „Volksgemeinschaft“ ermöglichen soll.
Doch dann greift ein Mann zur Waffe – und alles geht ganz schrecklich schief.
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Sie wollen alles ganz genau wissen. Bei ihrer Verhaftung am 9. März 1940 in Düsseldorf werden ihr schwerwiegende Dinge vorgeworfen: Hotelbetrug, heimliche Prostitution und Rassenschande. Und da sie eine jüdische Mutter hat, die in New York wohnt, vermutet die Gestapo sogar, sie könnte eine Spionin sein: „Sie gefährdet nach dem Ergebnis der staatpolizeilichen Feststellungen durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem sie dringend verdächtig ist, sich zum Nachteil des Deutschen Reiches zu betätigen.“
Jetzt stellt die Gestapo Julie H. viele sehr intime Fragen. Mit wie vielen Männern sie geschlafen habe in den letzten 12 Monaten, also seit sie nicht mehr Zuhause wohnt? Wie hießen die Männer, was für Berufe haben sie? Wann genau hat sie mit ihnen geschlafen und wo? Hat sie etwas dafür bekommen, vielleicht Geld? Wussten diese Männer, dass sie Jüdin ist und haben sie sich folglich der Rassenschande schuldig gemacht? Welche Lokale hat sie besucht, welche Pensionen und Hotels aufgesucht, und wer war mit dabei?
Julie H. nennt unter dem Druck der Vernehmung Namen. Sie benennt einen Unteroffizier, mit dem sie ein Liebesverhältnis gehabt habe. Einen Arzt, einen Kellner, einen Hauptmann, einen Oberstleutnant, einen Zahlmeister, einen Leutnant, noch einen Leutnant. Sie hätte sich all diesen Männern unter anderem Namen vorgestellt, es sei diesen Männern nicht bewusst gewesen, dass sie Jüdin sei. Aller Geschlechtsverkehr habe in Pensionen und Hotels stattgefunden, einmal aber auch in einer Türnische.
Die Gestapo holt sie am nächsten Tag zu einer erneuten Vernehmung aus der Zelle. Sie sagt: „In der Zwischenzeit sind mir noch einige Männer eingefallen, mit denen ich in der Zeit von November 1939 bis Februar 1940 noch geschlechtlich verkehrt habe.“ Sie benennt: einen Obertruppführer des Reichsarbeitsdienstes, einen Brauereibesitzer, einen Landwirt („Der Landwirt wusste, dass ich Jüdin bin. Im Laufe unserer Unterhaltung hatte ich ihm auf seine Frage, ich sehe aus wie eine Jüdin, gesagt, dass ich in Wirklichkeit auch eine sei. Der Herr erklärte mir, das störe ihn nicht, in seiner Familie sei einer seiner Großeltern gleichfalls nicht arisch.“), einen Schneider, einen Zahlmeister vom Luftgaukommando. Da sind gefährlich viele Militärpersonen dabei, findet die Gestapo. Und ist eine Jüdin, deren Mutter in den USA lebt, nicht wirklich eine geeignete Verräterin von Militärgeheimnissen? Aber zumindest dieser Verdacht erhärtet sich nicht. Julie H. beteuert, mit den Männern nicht über militärische Angelegenheiten gesprochen zu haben. Auch in den Briefen, die ausgetauscht wurden, sei davon nie die Rede gewesen. Eines beruhigt die Gestapo aber auch eindrücklich: die Gefahr der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter Soldaten. Denn die Nationalsozialisten brauchen gesunde Soldaten und zeugungsfähige Männer, die den Erhalt der „arischen Rasse“ sichern. Julie H. wird ermahnt, sich nicht mehr mit deutschen Soldaten einzulassen. Sie gibt zu Protokoll: „Ich sehe ein, dass mein moralischer Lebenswandel in der letzten Zeit, insbesondere der übermäßige Geschlechtsverkehr vor allem mit Militärpersonen, zu verurteilen ist. Ich gebe zu, dass hierdurch die Gefahr bestand, Geschlechtskrankheiten der Wehrmacht zu verbreiten. Nach meiner evtl. Entlassung werde ich einen andern Lebenswandel anfangen und bitte meine vorliegenden Verfehlungen milde zu beurteilen.“ Als die Vernehmungen beendet sind, unterstreicht die Gestapo in den Protokollen die Namen von Frauen, mit denen Julie H. unterwegs war in den Lokalen und Pensionen, um Männer kennenzulernen. Es sind die Ehefrau eines Oberfeldwebels und die Frau eines Militärgeistlichen, die jetzt nicht nur in Verdacht stehen, ihre Männer zu betrügen, sondern auch, sich heimlich zu prostituieren. Auch sie werden von der Gestapo hören.
Dass Julie H. jetzt in den Vernehmungsprotokollen als „Jüdin“ geführt wird, ist neu. Gerade ein Jahr zuvor galt sie noch als Deutsche. Das liegt daran, dass ihre Mutter, die mittlerweile in den USA lebende Rosa H., sie zwar geboren hat, Julie H. aber schon 5 Tage nach der Geburt von einem als „arisch“ geltenden Ehepaar adoptiert worden ist. Sie heißen Henriette und Heinrich Pl. und geben Julie einen neuen Namen: „Margot Pl.“ heißt sie jetzt. Sie lebt bei ihren neuen Eltern, besucht mehrere Schulen. Danach absolviert sie das „Landjahr“, wird dort sogar „Kameradschaftsführerin“. In den Bund Deutscher Mädel soll sie eintreten – aber ihre Pflegemutter interveniert: „Die anschließend beabsichtigte Aufnahme in den Bund Deutscher Mädel wurde nicht vollzogen, weil meine Pflegemutter (…) mich nicht gehen ließ. Sie sagte mir, ich sollte Zuhause bleiben und sie sehe es nicht gerne, wenn ich draußen herumliefe.“
Sie fängt verschiedene Ausbildungen an, bricht sie immer wieder ab – mal krankheitsbedingt, mal, weil sie es „nicht mehr aushält“. Sie arbeitet hier und dort als Aushilfe, in Lebensmittelgeschäften, bei Versicherungen, in Druckanstalten, im Gaumamt, bei Kraftfahrspeditionen und Zeitungen. Aber sie geht immer wieder von dort weg, es sind viele Wechsel in kurzer Zeit. Zuletzt ist sie Stenotypistin. Manchmal wohnt sie nicht Zuhause, manchmal schon – so auch von November 1938 bis Januar 1939. In dieser Zeit mischt die Pflegemutter sich in ihr Liebesleben ein – sie solle das Verhältnis zum bereits anderweitig verlobten Paul K. beenden. Der Streit schaukelt sich hoch, schließlich erwähnt die Pflegemutter gegenüber Paul K., dass ihre Tochter Jüdin sei. Das Verhältnis besteht dennoch weiter. Im Januar 1939 verlässt die Tochter das Elternhaus – ob sie des Hauses verwiesen wurde oder ihren Eltern wegen ihrer Arbeitslosigkeit wegen nicht zur Last fallen wollte, darüber besteht keine Einigkeit.
Im März 1939 aber wird der Kindesannahmevertrag aufgelöst, die Adoption rückgängig gemacht: „auf Grund schlechten Lebenswandels haben die Adoptiveltern die Adoption rückgängig gemacht, weswegen Julie H. ihren Namen Margot Pl. ablegen und sich jetzt wieder H. nennen lassen muss, angeblich hat sie das erst recht auf die schiefe Bahn gebracht“, schreiben die Behörden.
Der Vorgang beruht auf dem §12 I des Gesetzes über die Änderung und Ergänzung familienrechtlicher Vorschriften und über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 12.4.1938. Jetzt heißt Margot also nicht mehr Margot, sondern, wie bei ihrer Geburt, wieder Julie H. – Und ihr Nachname ist typisch jüdisch, sie ist sofort erkennbar als eine Frau, die zur „arischen Volksgemeinschaft“ angeblich nicht mehr gehört.
Sie lebt jetzt, ausgestoßen vom elterlichen Zuhause und aus der sicheren Volksgemeinschaft, der sie als Margot Pl. noch angehört hatte, in verschiedenen Hotels und Pensionen. Paul K. hält sie aus. Auch ein italienischer Stoffhändler namens Giovanni unterhält mit ihr Verkehr gegen Sachwerte: den dafür erhaltenen Pelzmantel setzt Julie H. in Geld um, um sich Lebensmittel zu kaufen. Dann beginnt sie, mit vielen verschiedenen Männer zu schlafen, um irgendwie durchzukommen. Geld bekommt sie kaum dafür, aber Essen und ein Obdach, wie die Gestapo feststellt: „Als Entgelt für den Geschlechtsverkehr wurde nach ihren Angaben von den Männern für sie größtenteils die gemeinsamen Zechen und das Hotelzimmer bezahlt.“ Die Gestapo befindet: „Bei der H. handelt es sich um eine total verdorbene Frauenperson“, sie sei „in ihrer sexuellen Begierde unersättlich“ – und die Behörden leiten Strafverfahren (u.a. Rassenschande, Kuppelei, Beamtenbestechung, Vergehen gegen die Kriegsnotverordnung) gegen viele der Männer ein, mit denen Julie H. geschlafen hat.
Sehr wichtig ist für die Gestapo, festzustellen, welcher „Rasse“ Julie H. denn nun angehört. Als sie ihre Adoptiveltern noch hatte, galt sie als deutsch. Jetzt herrscht bei den Behörden Verwirrung. Ist Julie H. Volljüdin? Oder Halbjüdin? Oder Mischling 1. Grades? Und haben sich ihre Sexualpartner denn nun der „Rassenschande“ schuldig gemacht oder nicht? Julie H. selbst bezeichnet sich als „glaubenslos“, sie gehört keiner Konfession, keiner Religion an. Wenn sie von den nationalsozialistischen Behörden als „jüdisch“ bezeichnet wird, dann ist das also nicht religiös gemeint, sondern beruht auf „Erbbiologie“ und „Rassenkunde“. Die Gestapo versucht sogar, den Vater von Julie H. ausfindig zu machen, um ihren „Rassestatus“ einschätzen zu können. Sie scheitert daran – und führt Julie H. zunächst als „Halbjüdin“, denn die „Rassezugehörigkeit konnte nicht einwandfrei geklärt werden“. Später wird Julie H. in den Ermittlungsakten dann nur noch als „Volljüdin“ bezeichnet werden.
Zunächst wird Julie H. inhaftiert. Dass sie sich „herumgetrieben“ hat, steht für die Behörden fest. Dass sie sich heimlich prostituiert hat, kann ihr aber nicht nachgewiesen werden. Außerdem ist Julie H. krank, sie leidet mehrfach an Mittelohrentzündungen und an Kiefervereiterung. Sie ist nicht haftfähig – und die Kosten für die Aufenthalte im Gefängniskrankenhaus möchte der deutsche Staat sich gerne sparen. Also kommt Julie H. wieder frei: „Die Pflegeeltern des Schutzhäftlings haben sich bereit erklärt, ihre Pflegetochter wieder in die Hausgemeinschaft aufzunehmen und ihren Lebenswandel zu überwachen“ – überwacht wird Julie H. in den folgenden Monaten aber auch von der Gestapo. Die befindet, es sähe eigentlich alles ganz gut aus, und Julie H. gehe sogar wieder einer regelmäßigen Beschäftigung nach: „Die Überwachung hat bisher Nachteiliges nicht ergeben. Ihre Namensänderung von H. auf Pl. – Namen der Adoptiveltern – ist erneut in die Wege geleitet.“
Was die Gestapo zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Julie H. wünscht sich nach ihren Erfahrungen als Adoptivkind nicht nur Liebe und eine eigene Familie. Sondern sie fürchtet sich auch schrecklich davor, als aus Familie und „Volksgemeinschaft“ Ausgestoßene erneut schutz- und obdachlos zu sein und verfolgt zu werden. Den Status als Vogelfreie will sie nie wieder erleben. Ihre Eltern haben ihr den „deutschen“ Namen schon einmal weggenommen. Sie könnten es wieder tun, auf sie ist aus ihrer Sicht kein Verlass. Wie aber kann Julie H. jetzt wieder untertauchen in der Masse der „Volksgemeinschaft“? Für sie ist klar: sie muss einen Mann mit einem deutschen Namen finden, der sie heiratet. Den Druck, der auf ihr liegt, gibt sie weiter und verlegt sich auf eine Masche: sie beginnt Verhältnisse mit verheirateten Männern, behauptet dann, schwanger von ihnen zu sein, informiert die Ehefrauen, um eine Scheidung zu erreichen und fordert, geehelicht zu werden.
Das hat Julie H. schon mehrfach versucht. Bis jetzt hatte sie damit bei keinem ihrer Verhältnisse Erfolg.
Aber im November 1940 hat sie damit nicht nur keinen Erfolg mehr, sondern ihr Todesurteil unterschrieben. Denn der verheiratete Herr O., mit dem sie sich in einer Beziehung wähnt, verliert, als er derart erpresst wird, die Nerven.
Herr O. ist Gefängniswärter. Und dort, im Gefängnis, lernt er Julie H. auch kennen. Später wird er bestreiten, schon zu ihrer Haftzeit eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Aber spätestens als sie freikommt, befinden sich die beiden in einem Verhältnis, sie schlafen auch miteinander. Weil Julie H. damals im Prozess ist, erneut ihren deutschen Adoptivnamen tragen zu dürfen, hat O. keine Bedenken, sich wegen „Rassenschande“ schuldig zu machen. In zivil und in Uniform geht er mit ihr aus, sie besuchen öffentliche Lokale. So geht das wochenlang. Seine Frau ahnt zu diesem Zeitpunkt nichts, aber dann werden die beiden durch ein anonymes Schreiben denunziert und O. muss seiner Frau die Wahrheit sagen.
Es ist die Nacht vom 2. auf den 3. November 1940, als die Situation lebensgefährlich eskaliert. Das Ehepaar kommt nach Hause, beide alkoholisiert. Seit Wochen stehen beide unter Druck, Frau O. wird durch Anrufe terrorisiert, in denen Julie H. sie auffordert, ihren Mann endlich freizugeben, denn der habe sie geschwängert und müsse sie jetzt heiraten. Die Lage sei dringlich, sie befinde sich bereits im 5. Monat, behauptet Julie H. – Als Frau O. auf die Anrufe nicht mehr reagiert, verlegt sich Julie H. darauf, sie zu besuchen. Sie will alles tun, um diese Heirat zu erwirken – und ihr eigenes Leben vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen.
Auch an diesem Abend entlädt sich der Konflikt in einem Streit zwischen den Eheleuten, es wird laut. Frau O. macht ihrem Mann Vorwürfe, sich mit Julie H. überhaupt eingelassen und ihr dann auch noch ein Kind gemacht zu haben. Sie fühlt sich dem Terror, den ständigen Anrufen und Besuchen, schutzlos ausgeliefert. Beide schreien sich an, Frau O. geht ins Schlafzimmer, knallt mit der Tür. Wenig später folgt Herr O. ihr – in der Hand hat er eine Taschenpistole. Er bringe sie jetzt alle beide um, droht er. In Todesangst flieht Frau O. aus der Wohnung, rennt halbnackt auf die Straße, um ihr Leben zu retten. Schlotternd hält sie es eine ganze Weile in der nächtlichen Novemberkälte aus. Doch da sie nicht weiß, wohin sie gehen soll, kehrt sie schließlich in die Wohnung zurück. Ihr Mann wartet hinter der Haustür auf sie. Sie bettelt und fleht, dass er von seinem Vorhaben ablässt. Für diesen Abend gelingt dies: beide legen sich ins Bett, schlafen vor Übermüdung ein.
Am nächsten Morgen geht Frau O. zur Polizei.
Und die reagiert sofort. O. wird der Dienst als Gefängniswärter untersagt, Uniform, Ausrüstungsstücke und Ausweise werden ihm abgenommen: „Da Frau Ostertag sich fürchtete, dass ihr Mann wenn er wieder nach Hause käme, seine Selbstmordabsichten durchführen könnte und weil Ostertag tatsächlich eine geladene Taschenpistole mit sich führte, habe ich ihn im Einverständnis mit seiner vorgesetzten Dienststelle, bis zur weiteren Entscheidung in Schutzhaft genommen.“, schreibt der diensthabende Beamte ins Protokoll.
In der Befragung versucht Herr O., seinen gewaltsamen Übergriff gegen die eigene Frau und auch seinen angedachten Suizid herunterzuspielen. Er habe lediglich die Vorwürfe seiner Frau nicht mehr ausgehalten: „Um sie einzuschüchtern und den Lärm zu unterbinden, drohte ich mit meiner Pistole. Die Absicht, mich oder meine Frau zu erschießen, habe ich nicht gehabt.“
Die nationalsozialistischen Behörden finden, der Versuch des Ehemannes, seine Frau zu töten und sich anschließend selbst das Leben zu nehmen, sei die Schuld von Julie H.
Am 7. November 1940 wird sie festgenommen. Es liegt sowieso noch eine vierwöchige Gefängnisstrafe vor ihr, weil sie zwei Pullover gestohlen hat. Zeit genug für die Gestapo, sich ausführlich mit ihrem Lebenslauf zu beschäftigen und eine „Sozialprognose“ abzugeben. Diese fällt denkbar ungünstig aus. Bereits in der späten Jugend sei Julie H. ein „verkommenes Mädchen“ gewesen, „lügnerisch, zum Stehlen neigend und (…) herumtreiberisch“. Mit Soldaten habe sie Geschlechtsverkehr gepflegt, damit angeblich die Gesundheit der Wehrmacht gefährdet. Dass sie versucht hat, Männer an sich zu binden, indem sie behauptet, schwanger zu sein, ist für die Gestapo und die Staatsanwaltschaft nicht hinnehmbar: „Die H. hat durch ihr Verhalten gezeigt, dass sie nicht gewillt ist, ihren unsoliden Lebenswandel aufzugeben. Durch ihre Skrupel- und Zügellosigkeit in sexueller Hinsicht bedeutet sie eine ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung.“ Und da sie „trotz eingehender Belehrung und Verwarnung ihr asoziales Verhalten nicht änderte, dadurch die Volksgemeinschaft schädigt und zu der Befürchtung Anlass gibt, dass sie nach Freilassung ihr Treiben fortsetzt“, bleibt aus Sicht der Behörden nur eins: Julie H. wird aus dem Gefängnis zwar entlassen, wird aber direkt in Schutzhaft genommen – und von da direkt ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überwiesen.
Jetzt sind alle Verbindungen, die Julie H. hatte und an die sie sich so verzweifelt klammerte, gekappt. Ihre Adoptivmutter geht wegen ihr nur noch ein einziges Mal zu den Behörden: um Papiere wie Schulzeugnis, Versicherungskarte, Landjahrbuch und Arbeitszeugnisse abzugeben. „Die frühere Stiefmutter der Julie Sara H., Frau Pl., hat die anliegenden Papiere hier abgegeben, damit sie der H. wieder zur Verfügung gestellt werden können. Frau Pl. erklärt, jegliche Beziehungen zu der H. abgebrochen zu haben.“ Jetzt ist Julie H. durch nichts mehr geschützt. Kein „arischer“ Mann hat sie geheiratet, die Pflegeeltern untersagen ihr das Führen des deutschen Namens, stoßen sie aus der Familie aus wie die „Volksgemeinschaft“ sie ausstößt: weil sie angeblich Jüdin ist, weil sie sich „asozial“ verhält und weil sie eine „sich herumtreibende“ Frau ist, die die deutschen Männer mit Geschlechtskrankheiten anstecken und den „arischen Volkskörper“ verseuchen könnte.
Julie H. stirbt angeblich am 9. Februar 1942 im KZ Ravensbrück. „Angeblich“, weil das Todesdatum genauso gefälscht sein könnte wie die angegebene Todesursache „Lungenentzündung“. Wann und wie genau Julie H. im KZ Ravensbrück wirklich gestorben ist, kann nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden. Der offizielle Schnellbrief der Kommandantur des KZ Ravensbrück an die Gestapo Düsseldorf lautet jedenfalls so: „Die seit dem 22.2.41 für die dortige Dienststelle hier einsitzende Schutzhaftgefangene Halbjüdin H. ist am 9.2.42 um 15:10 Uhr an einer Lungenentzündung gestorben. (…) Es wird gebeten die Pflegeeltern Heinrich Pl. (…) vom Ableben der H. zu verständigen und ihnen bekanntzugeben, dass die Leiche auf Staatskosten eingeäschert wird. Eine Besichtigung der Leiche ist aus hygienischen Gründen nicht möglich. Die Urne kann von der Kommandantur des KL Ravensbrück zur Überführung schriftlich angefordert werden.“
Dass die in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen aus hygienischer Ursache nicht mehr von ihren Angehörigen besichtigt werden können, ist ein Standardsatz in den Todesmeldungen der KZ-Kommandanturen an die Hinterbliebenen. Es ist eine Lüge, genau wie die Todesursache gefälscht ist, manchmal auch das Todesdatum. In den Urnen, die manche Angehörige auch wirklich anfordern, findet sich keinesfalls die Asche der Ermordeten. Es ist wahllos zusammengekratzte Asche aus den Krematorien der KZ.
Das einzige, was von Julie H. zurückbleibt, sind die Dinge, die sie mit ins KZ genommen hat. Das KZ schickt sie in einem Paket an die Gestapo Düsseldorf. Henriette Pl. wird vorgeladen, sie hat zu unterschreiben, dass alles, was auf der Effektenliste für die Einlieferung steht, nach dem Tod von Julie H. auch wieder abgegeben wurde.
Schließlich muss alles seine Ordnung haben.
Es handelt sich um: ein Nachthemd, eine weiße Polobluse, eine blau-schwarze Strickjacke, eine lila Strickjacke, ein gestricktes Leibchen, einen Wollschal, einen Seidenschal, zwei Paar Herrensocken, fünf Paar Strümpfe, zwei Paar Handschuhe, ein Paar neue Hausschuhe, eine Zahnbürste, ein Stück Seife, ein Stück Stopfgarn, ein Paar Schuhe, einen Strumpfhalter, vier Hemden, einen Rock, drei Schlüpfer, einen Mantel, zwei Unterröcke, eine Handtasche, einen Büstenhalter und einige Papiere.
Die ehemalige Adoptivmutter Henriette Pl. unterschreibt, die Sachen gesehen zu haben.
Dann wird auch das letzte Hab und Gut von Julie H. zusammengesammelt und vernichtet.
Aus „sanitären Gründen“.
© Anne S. Respondek, Januar 2022
Benutzte Quellen:
Gestapo-Akte der Staatspolizeileitstelle Düsseldorf für Julie H. (Margot Pl.)
Bad Arolsen Archiv – Internationales Zentrum über NS-Opfer
Signatur 1.1.35.1 / Reference Code 8144405