Es ist nicht der Krieg, der vergewaltigt, es sind konkrete Männer

Sexualisierte Gewalt als Besatzungsstrategie am Beispiel von Vergewaltigungen durch russische Soldaten im aktuellen Ukrainekonflikt

(Dieser Artikel ist zuerst in der Zeitung „Graswurzelrevolution“ erschienen.)

Ich betrachte ein Bild. Es ist ein Foto, erst wenige Tage alt. Aufgenommen wurde es auf der Autobahn nach Schytomyr, einer Stadt in der Ukraine. Auf dieser Autobahn liegt ein Müllhaufen, garniert mit Autoreifen. Denke ich. Dann schaue ich näher hin und sehe: Das ist kein Müll, das sind Leichen.
Es sind, stellt sich heraus, nackte, vergewaltigte, getötete ukrainische Frauen, zwei oder drei, das lässt sich nicht mehr genau ausmachen. Jemand hat sie aufeinandergestapelt und versucht, sie anzuzünden. Irreal schaut das aus, absurd. Wie Teile von Schaufensterpuppen. Ich betrachte das Bild und frage mich, wozu die Autoreifen? Haben hier russische Besatzer versucht, einen Müllberg zu inszenieren, ist das ein Statement, ein politisches? Ukrainische Menschen als Müll?

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Leichen brennen schlecht. Ich weiß das, denn ich bin Forscherin im Bereich sexueller Gewalt im Krieg, vor allem während des 2. Weltkriegs. Immer wieder stand die Wehrmacht bei ihren Rückzügen vor dem Problem, die vielen Leichen der Massenerschießungen unsichtbar machen zu müssen. Dafür gibt es mehrere Strategien: Man kann sie zum Beispiel vergraben. Aber was einer vergräbt, kann der andere wieder ausgraben. Also ist es besser, Leichen, die niemand mehr sehen soll, zu verbrennen.
Nur brennen Leichen schlecht. Ohne Krematorium und mit einem normalen Feuer kommt man kaum auf die Temperatur, die es braucht, eine Leiche komplett veraschen zu lassen – es dauert Tage, bis dies auch nur im Ansatz der Fall ist. Deswegen braucht man ein Feuer, das nicht immer wieder ausgeht. Autoreifen brennen gut. Sie brennen lange. Sie schwelen vor sich hin, tagelang, wochenlang. Brennende Autoreifen sind perfekt, um sie zu Leichen zu legen, deren Identität und Todesursache man unkenntlich machen will. Brennende Autoreifen sind perfekt, um Kriegsverbrechen zu vertuschen: Kriegsverbrechen wie das, die Frauen eines besetzten Landes zu vergewaltigen.

Ich kenne viele Theorien über Kriegsvergewaltigungen. Viele davon sind sehr stimmig. Dass diese sexuelle Gewalt eine Kommunikation zwischen den Männern des besetzenden und den Männern des besetzten Landes ist zum Beispiel, mit der Botschaft: Ihr seid keine Männer, denn ihr könnt eure Frauen nicht beschützen, wir tun ihnen weh, wir nehmen sie sexuell in Besitz, wir hinterlassen sie euch „entehrt“ – so die alte hässliche, patriarchale Sichtweise. Manchmal ist das Ziel auch die erzwungene Schwängerung, wie in den Vergewaltigungslagern im Kosovo. Auch dies eine Ansage an die Besetzten: Wir löschen euch aus, wir zerstören euer Volk, eure Identität, wir drängen uns euch auf, in euch hinein, setzen „unsere“ Kinder in eure Bäuche, Schöße, Häuser, Familie, Gesellschaft. Auch dies patriarchales Denken und Handeln, auch dies ein Verfahren mit eindeutig genozidalen Zügen.
Länder werden oft weiblich gedacht. Wo die Nation ein männliches Konstrukt ist, ist das Vaterland oft gar kein Vater-, sondern ein Mutterland und weiblich konnotiert. Deswegen wird Krieg auch so oft als Vergewaltigung eines Landes beschrieben, es ist eine symbolische Zeichnung: die Penetration eines Landes durch eine fremde, aktive, handelnd gedachte (ist gleich männliche) Macht, das gewaltvolle Eindringen einer Armee in ein passiv gedachtes, wehrloses oder zu überwältigendes, sich widersetzendes Land. Die Frau steht unter dem Mann, die andere Nation ist die Frau, sie gehört unterworfen.

Frauen eines besetzten Landes werden von Besatzern in mehrfacher Hinsicht symbolisch betrachtet: als Zugehörige zu einem zu unterwerfenden Volk und als Frau. Sie werden vergewaltigt als Besetzte, um die Ordnung, die die Besatzer sich wünschen, zu erzeugen: Unterwerfung der besetzten Bevölkerung und die Herstellung einer Hierarchie, in der der Besatzer das Sagen hat und die Besetzten zu erdulden und zu gehorchen haben. Und die Wiederherstellung der alten patriarchalen Machtordnung erfolgt gleich mit: Eine Frau hat sich nicht gegen einen Mann zu wehren, eine Besetzte nicht gegen einen Besatzer, schon gleich gar nicht, wenn sie weiblich ist.
Und mit Vergewaltigungen durch Soldaten wird (toxische) Männlichkeit hergestellt. In einem Verfahren der gegenseitigen Rückversicherung, male bonding genannt, wird sich vergewissert: Schaut her, wir gehören zusammen, wir sind ein Männerbund, Kameraden sind wir, denn wir begehen gemeinsam Gewalttaten. Das schweißt zusammen. Und: Jeder einzelne von uns ist ein Mann, denn er ist gewalttätig und gleichzeitig sexuell aktiv und unterwerfend. Ein richtiger Mann eben.

Es sind dies Denkkonzepte, die patriarchaler und toxischer nicht sein könnten. Aber die Vergewaltigungen, die die Frauen und Mädchen in der Ukraine erleben, sind nicht nur Konzepte. Sie sind real. Sie sind konkret. Wir kennen sie aus dem Kosovokrieg, aus Ruanda, aus Syrien und aus fast allen kriegerischen Konflikten auf dieser Welt.
Gerade kommt das Thema der im Krieg vergewaltigten Frauen aus der Ukraine in Deutschland an. Es wird immerhin wenigstens angedeutet, dass es das gibt: Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen in der Ukraine. An kleinen Mädchen (drei Jahre das jüngste), an Teenies, an erwachsenen Frauen.
Und dann? Dann folgt immer dasselbe. Menschen beteuern, dass sie das „ganz schlimm“ finden. Was sie nicht sagen, aber als unhörbarer, unausgesprochener Nebensatz immer wieder mitschwingt: „Da kann man nichts machen, das ist eben Krieg, es war schon immer so“. Und jedes Mal, wenn ich das heraushöre, bekomme ich innerlich eine Gänsehaut. Und so eine Wut.
Denn erstens: Dass Frauen der besetzten Länder vergewaltigt werden, ist doch kein Naturgesetz! Wie können wir als zivilisierte Gesellschaft so etwas formulieren! Dass so was „immer wieder passiert“, „typisch Krieg“ ist und „schon immer vorkam“ – das ist doch bloß eine Ausrede, um ERNEUT nicht handeln zu müssen. Um auch dieses Mal nicht hinsehen und helfen zu müssen. Denn man kann ja nichts machen, es ist ja immer so gewesen. Ja, schade aber auch!

Und zweitens: Es ist nicht der Krieg, der vergewaltigt. Es liegt nicht am Krieg, dass vergewaltigt wird, „DER Krieg“ handelt nicht, überwältigt nicht, zieht keiner ukrainischen Frau die Hosen runter oder den Rock hoch, DER Krieg hat keine Hände, um festzuhalten, hat keinen Penis, um gewaltsam einzudringen. DER Krieg vergewaltigt nicht. Sondern die Männer in ihm sind es, die vergewaltigen. Und das sind übrigens dieselben Männer, die auch im Frieden existierten. Sie wurden nicht ausgetauscht, es sind noch die gleichen.

Jaja, nicht alle Männer vergewaltigen. Das stimmt schon. Aber es sind genug, um Frauen das Leben zur Hölle zu machen. Und das Problem sind ja nicht nur die, die dann auch wirklich vergewaltigen. Sondern auch die anderen. Die, die die Taten beschweigen, die sich nicht mal dazu äußern oder dagegen aussprechen. Die, die finden, das sei unwichtig oder lustig – wie Friedrich Merz, der neulich die Forderung Annalena Baerbocks nach einer feministischen Außenpolitik als „Gedöns“ bezeichnete und süffisant lächelte. Friedrich Merz ist ein gutes Beispiel dafür, was „Kriegsvergewaltigungen“ wirklich sind.
Wir erinnern uns: Friedrich Merz stimmte damals gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe. Überrascht es, dass jemand, der Vergewaltigung in bestimmten Kontexten nicht schlimm findet, nun auch keinen Zugzwang sieht, gegen Vergewaltigungen im Krieg, also in anderen Kontexten, vorzugehen?

Kriegsvergewaltigungen sind ein Phänomen, das aufzeigt, was in der Gesellschaft, die sie begeht, immer schon schwelt: die Bereitschaft von Männern, sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern auszuüben. Krieg eröffnet Männern, die dazu bereit sind, lediglich den Machtraum, den sie mit diesen ihren Gewalttaten auszufüllen bereit sind. Es ist nicht der Krieg, der vergewaltigt. Es sind ganz konkrete Männer, die eh schon bereit waren, sexuelle Gewalt auszuüben (und das vielleicht auch schon getan haben und weiter tun werden), und die in einer Kriegssituation einfach nur die Gelegenheit ergreifen. Es sind Männer mit Namen und Gesichtern.
Es wäre schön, wenn die Frauen in der Ukraine, die gerade Vergewaltigungen durch die Besatzer erlebt haben, sich die Gesichter merken und die Namen erfahren könnten. Denn Vergewaltigungen sind ein Kriegsverbrechen, das nach Den Haag gebracht werden kann. Leider ist es so, dass dafür das Opfer die Identität, die konkrete Identität des Täters kennen muss. Aus der Perspektive der Frauen kommt das einer Straffreiheit für die Vergewaltiger gleich: Du sitzt in einem Keller in einem Vorort von Kiew, plötzlich ist der Keller voller Soldaten, einer packt dich und zieht dich nach nebenan. Was weißt du über ihn? Dass er jung ist, 20, 25 vielleicht, dass er braune Haare hat, dass er Alexander, Sergej oder Dimitrij heißt möglicherweise. Aber was willst du damit anfangen? Es ist zu wenig für Den Haag. Es wäre sinnvoller, die Generäle und Offiziere, die zulassen, dass ihre Soldaten vergewaltigen, in Den Haag anzuklagen dafür, dass sie diese sexuelle Gewalt ihrer Truppen nicht verhindert haben.

Ich beschäftige mich täglich mit der Aufarbeitung sexueller Gewalt während des Zweiten Weltkriegs, vor allem mit der Zwangsprostitution osteuropäischer Frauen durch die Nationalsozialisten in den Wehrmachtsbordellen und mit den Vergewaltigungen, die vor den Massenerschießungen stattfanden. Ich sehe täglich hässliche Fotos. Ich kenne die Bilder von Gruben voller halbverscharrter, halbnackter Frauen, die Bilder von geöffneten Kellern mit wie hingeworfenen Frauen und Mädchen mit hochgeschobenen Röcken und zerschlagenen Gesichtern, die Bilder von gestapelten Frauenleichen. Aber normalerweise sehe ich sie in Sepia oder in Schwarz-Weiß. Dass ich sie jetzt – wieder! Wie im Kosovokrieg, wie in Ruanda, wie in … so vielen Kriegen – in Farbe sehen muss, trifft mich. Als Historikerin, als Feministin, als Frau.

Eine Autobahn in Richtung Schytomyr. Ob die Frauenleichen noch dort liegen? Vielleicht hat sie endlich jemand begraben. Eventuell liegen die Autoreifen noch dort.
Und dann. In unserer Mitte. Das Schweigen – vor allem der Männer –, das unsägliche Verhalten, sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen auf den Krieg zu schieben, statt diejenigen in die Verantwortung zu nehmen, die das konkret getan haben: nicht der Krieg nämlich, sondern Männer. Denn das Schweigen und das Hinnehmen und das Vorgeben, Vergewaltigungen im Krieg seien ein Naturgesetz, eine unveränderbare Folge eines jeden Krieges, das Aus-der-Verantwortung-Nehmen und Nichtbenennen der Täter ist vor allem eins: Ein erneutes Anzünden von Autoreifen neben Frauenleichen. Es ist: der Versuch einer Vertuschung.

Und wollen wir das tun, wieder? Vertuschen, verschweigen, achselzuckend resignieren? Ich bin mir sicher, wir können das besser. Wir können hinsehen. Wir können ehrlich benennen. Wir können Aufarbeitung. Wir können: Handeln. Wir können Solidarität mit Frauen über Ländergrenzen hinweg. Sie beginnt mit der Frage: Schwester, was brauchst du? Und mit einem Aushalten einer ehrlichen Antwort.

© Anne S. Respondek